Die Sonne schlägt einen winterlichen Bogen über dem Schlosspark. Am Horizont kündigt ein Wolkenbank an, daß es heute noch ein pastellfarbenes Schauspiel geben wird.
Ich jogge, die Kälte kriecht mir in Ohren und Lunge, aber ich habe Spaß. Hinter mir tappelt meine Zimmernachbarin mit Nordic-Walking-Stöcken. Richtungswechsel werden von mir mit Armeschwenken begleitet, damit ich sie nicht verliere. Heute morgen hat sie die Klagemauer wieder hochgezogen. Diesmal mit Grund, wie es scheint. die Krankenkasse weigert sich, den zweiten ausgiebigen Psychiatrieaufenthalt in diesem Jahr zu zahlen. Die Alternative: Gerontopsychiatrie.
Autor: ziemssen
Urlaub vom Kommiss
Gestern vormittag habe ich dann aufgegeben. Ich hatte beim Frühstück einen Mitpatienten umgerannt, der mit der Kaffeetasse unterwegs war. Dann saß ich auf Krawall gebürstet in der Musiktherapie und pöbelte den Therapeuten, zu meinem Hörerlebnis und diesbezügliche Gefühlen befragt, an, wie er so blöde Fahrstuhlmusik spielen könne.
Das alles wurde nur durch einen morgendlichen Impuls ausgelöst. Zackzack! Fünf vor acht vorm Schwimmbad stehen, denn nur in der ersten Viertelstunde ist so etwas wie Schwimmen möglich. Vorher rechtzeitig wachwerden, Zähne putzen, kämmen, provisorisch anziehen, Kaffee trinken, ein paar Cornflakes essen, das Frühstück auf einem Teller sichern, das Ei unters Kopfkissen packen, damit es warm bleibt und los gehts. Doch dann verspätet sich der Bademeister, der das Bad um acht Uhr öffnet oder das Adipositas-Geschwader hat den Badeanzug schon drunter und popelt sich nicht noch minutenlang vor dem Spind in die Plastikpelle und mir bleiben nur zehn Bahnen allein, bevor es eng wird. Ist es das wert?
Wie ein kleiner Zinnsoldat rase ich dann auch durch den Rest des Tages. Zackzack! Essen! Telefonieren! Mittagsruhe! Separates Plätzchen suchen!
Meine Zimmernachbarin akzeptiert zwar, daß ich in Ruhe gelassen werden will, aber es geht ihr langsam besser. Was heißt, sie bricht in endlose Redeströme aus. 10 Jahre Psychiatrieerfahrung in Berlin möchten weitergegeben werden. Es nervt mich. Sie versteht keinen diskreten Hinweis, wie ins Buch schauen, nur nebenbei „Hm“ murmeln. Ich fühle mich noch immer unwohl, wenn sie im Zimmer ist, auch wenn sie nun nur liest.
Aber ich bin mit meinem Entschluß, dem kleinen Zinnsoldaten Urlaub vom Kommiss zu geben, wesentlich dünnhäutiger und empfindsamer geworden. Ich friere, bin müde und grundlos leicht traurig, möchte mich am liebsten in meine Decken einwickeln und lesen. Sie stört mich dabei, auch wenn sie nichts dafür kann.
Piano, Piano
Ich bin dabei, mich auf eine längere Zeit hier einzurichten. Die geschützte Umgebung und die fast auf Null reduzierte Verantwortung tun mir gut. Die Atmosphäre im Zimmer hat sich nochmals gedreht. Die Alte frisst mir nunmehr aus der Hand.
Wirklich eine komische Geschichte. Erst der Versuch, mich sofort zu okkupieren und zum Zuhör- und Mitleidssklaven zu machen und nachdem ich mich dem verweigerte in rückhaltlose Bewunderung auszubrechen. Das muß ich mir für draußen merken.
Die erste Stunde Tanztherapie liegt hinter mir. Ich hatte den kompletten Horror erwartet, aber das ist zunächst nichts anderes als die Aufwärmübungen aus dem Schauspielunterricht.
Ich bekomme wieder meine altbekannten Ausbrüche von Energie. Sehr verhalten, kein Vergleich mit früheren Zeiten. Nach 1-2 Stunden Wohlgefühl und Flow bin ich dann todmüde und muß schlafen. Es ist verrückt, gegen viele Leute hier, vor allem die Frauen, bin ich ein Ausbund von Frohsinn und Bestimmtheit. Die Grundhaltung hier ist Jammern und Klagen: über das Essen (wtf?), unwirksame Medikamente, das Eingeschlossensein und das eine oder andere private Ungemach. Die Jüngste – natürlich eine Anorektikerin – sperrt sich mit Händen und Füßen gegen jegliche Behandlung, eine der Ältesten, meine Zimmergefährtin, läßt sich tränenreich in ein Meer von Leiden und Todeswünschen fallen. Die Standardantwort auf die gern gestellte Frage: „Wie geht es dir heute?“ ist „Schlecht, sehr schlecht.“
Die Männer sind eher wortkarger. Da hört man nur um drei Ecken: Der und der hatte wieder einen schweren Anfall. oder Ich kann mich einfach noch nicht konzentrieren. oder einer versucht mit Macht, das Zittern seiner Hände zu verbergen und sieht extrem runtergekommen aus. In dieser Ecke fühle ich mich wesentlich besser aufgehoben. Vielleicht ist es auch mein Unvermögen, Schwäche zu zeigen und mich fallen zu lassen.
Slow Down
Heute gegen Morgen kam endlich der Moment der Entspannung. Die Muskeln lockerten sich, der Kiefer hörte auf zu schmerzen und das innere Vibrato ließ nach.
Ich schlief wie tot und hörte nicht einmal das Wecken, um zehn Minuten später wie ein angeschossenes Reh aus meinem Bett zu taumeln. Die Visite war früh angesetzt, Frühstück gab es noch eher und ich wollte endlich morgens die Schwimmzeit nutzen, um mich überhaupt etwas zu bewegen.
Im kleinen Schwimmbecken tummelten sich dicke Frauen unterschiedlicher Altersstufen. Ich fragte den Schwimmmeister, ob er eine Auge auf mich haben könnte, weil ich Angst hatte, wieder einen dieser Schwindelanfälle zu bekommen.
Erso: Nehmse einfach den Hintern runter, dann brauchense keine Angst zu haben.
Ichso: Wie soll denn das gehen?
Erso: Na kiekense ma: Die laufen alle übern Boden und machen so Armbewegungen wie beim Brustschwimmen.
Ichso: omg! Ich will Schwimmen!
Er mustert meinen Sportbadeanzug, die Chlorbrille und die Badekappe: Wennse Profi sind, würdick da nicht reingehen. Da verschreckense nur die andern.
Ich hätte auf ihn hören sollen. Ich versuchte, mich durch die Gänseherde zu schlängeln, der Schwindel ließ mich in Ruhe.
Nach ein paar Bahnen winkte mich der Schwimmmeister wieder ran: Dit könnse heute nich machen, dit sind allet Rheumatikerinnen, die haben panische Angst, dasse gerempelt werden, dit tut denen nämlich richtich weh.
Ich schwamm weiter und achtete peinlich darauf, niemanden zu berühren oder auch nur zu nahe zu kommen, mit dem Ergebnis, da ich fast auf der Stelle trieb, weil vor mir und hinter mir die dicken Frauen mit rudernden Armbewegungen herumwatschelten. Am Ende der Bahn verschnauften sie immer ausgiebig und schnatterten.
Nach ein paar anklagenden „Mobbing!!!“-Blicken stieg ich aus dem Becken.
Der Bademeister winkte mich heran: Kommse in der Woche und dann um achte, nich um neun, da schlafen die noch, da könnse dann richtich durchziehn.
Übrigens, die Hexe in meinem Zimmer ist minder amüsiert, weil sie gebeten wurde, mich in Ruhe zu lassen. Ich wäre in einer Art Schweigekur wie im Kloster. Das mußte sie wohl oder übel verstehen, denn auf ihrem Nachttisch steht eine kleine Ikone. Nun fehlt ihr jegliches Publikum, weil sich auch draußen auf dem Gang niemand mit ihr beschäftigen will.
Außerdem muß sie von nun an ihren Besuch in einem der Konversationszimmer empfangen. Das heißt, sie blockiert nicht mehr stundenlang das Zimmer und kann nicht im Bett Audienz geben, sich von ihrem Sohn (einem duschverweigernden Fettkloß) Abendbrot reichen und ihrer Freundin vorlesen und „Trost spenden“ lassen.
Ich konnte heute ungestört dösen und schlafen. Wunderbar. Aber die Atmosphäre ist nachhaltig gestört, ich habe mir angewöhnt, sie wie Luft zu behandeln und schaltete vorhin versehentlich das Licht aus, als ich aus dem Zimmer ging, obwohl sie auf dem Bett saß und las… Aber ich habe mich für meine Unachtsamkeit entschuldigt.
Sterbender Schwan
Die Frau, mit der ich ein Zimmer teile, klein, zart, langes weißes Haar (eine dieser ehemals schönen) ist eine Aufmerksamkeitsvampirin. Da ich mich so garnicht auf eine Unterhaltung einließ, begann sie zu leiden.
Erst stöhnte und jammerte sie nur, dann begann sie mich selbst anzusprechen, wenn ich schlafend auf dem Bett lag. Alles sei schrecklich, das Leben, die zur Verfügung stehenden Bücher, ich flüchtete immer öfter auf den Flur und in Aufenthaltsräume.
Sie oderte Publikum. Sohn und Freundin saßen um sie herum, während sie minutiös ihre Träumen oder Szenen aus dem Psychodrama schilderte. Weit über die Besuchszeit hinaus las ihr die Freundin aus einem erbaulichen Buch vor.
Kaum war die Freundin weg und ich wieder im Zimmer, stürzte sie wankend ins Bad, um zu schreien, zu weinen und sich zu übergeben, ich holte die Schwester und verbrachte wieder eine Stunde ratlos im Flur. Ich haderte mit mir. Was bin ich für ein Weichei, wenn ich mich von einer hysterischen Hexe aus meinem eigenen Bett in die Flucht schlage lasse. Warum fühlte ich mich verantwortlich, dieser Frau zuzuhören und ihr Hilfe anzubieten? Ich käme doch auch nicht auf die Idee, in einem Zimmer in der Chirurgie liegend, mich um einen leidenden Operierten zu kümmern. Ich würde nach der Schwester klingeln und darauf hinweisen, daß es jemand schlecht ginge.
Ich ging zurück ins Zimmer, nahm mir ein Buch und legte mich aufs Bett. Geheul und Gewimmer vom Bett nebenan. Ich holte ihr eine Flasche Wasser und erklärte ihr freundlich und ruhig, daß ich mich um ihre Probleme nicht kümmern könnte. Weinend zusammengekrümmt schlief sie ein.
Kaum hatte ich das Licht gelöscht (10 Uhr abends, irrsinnige Schlafenszeit), begann der Spuk. Sie saß weinend und schreiend im Bett (natürlich in einer Lautstärke, die das Schwesternzimmer nicht hörte), dann kotzte sie die Decken voll und kroch auf der Suche nach dem Lichtschalter über den Boden. Die Pfleger liefen zusammen, machten sie sauber, sie verlangte nach einem Arzt, weil sie fürchterliche Nierenschmerzen hätte. Ob denn das nötig wäre, wurde sie gefragt. Aha, die Nummer kennt man hier also schon.
Caspar David Friedrich
Der Blick aus dem Fenster erhebend: Alte kahle Bäume im Schloßpark vor hellen Nachtwolken, der Mond war irgendwo. An der Unterkante des Fensters verschwanden in regelmäßigen Abständen die Leuchten der landenden Flugzeuge.
Nur der Schlaf kam nicht, trotz Chemie. Ich biß die Zähne krampfhaft und hart aufeinander und hielt meine Daumen mit geballten Fäusten fest umschlossen. Ich implodierte, wurde zu Nichts. Ein Punkt, irgendwann nicht einmal mehr die erste Dimension sondern nur noch lästige Existenz-Zeit. Ich war doch schon verschwunden, warum dauerte es so lange, bis ich nichts mehr spürte? Irgendwann schlief ich ein.
Das Trappeln und Seufzen meiner Zimmernachbarin weckte mich (nichts ist schlimmer, als wenn jemand versucht, kein Geräusch zu machen). Sie griff nach Zigaretten, so gegen fünf Uhr morgens. Als sie aus dem Zimmer war, setzte ich mich auf. Blackout, mein Hirn im Schleudergang, lange Sekunden stürzte ich ins Nichts. Ich hatte noch nie so ein Schwindelgefühl.
Das gab meiner Hypochondrie Auftrieb: Jetzt hast du es. Das hört nie mehr auf, es wird dich immer wieder erwischen. Bei Lesen, beim Haare waschen, beim Gestikulieren. Ich sah mich am nächsten Tag Vermächtnisse und Handlungsanweisungen diktieren.
Die fast theatralische Tour
Jetzt bin ich also drin. Drin und doch nicht drin im Beckerschen Sinn. Das Patienten-WLAN ist zwar zu scannen, aber „funktioniert“ angeblich noch nicht. (Für wie blöd halten die mich eigentlich!) Es gibt nur noch keine Login-Daten, dafür ist die Telefonanlage derzeit so fehlerhaft programmiert, daß selbst Auslandsgespräche kostenlos sind. Der Systemadministrator ist wahrscheinlich kurz vor der Einlieferung in das letzte freie Zimmer, das es hier gibt.
Hierher zu kommen, war nicht einfach. Ich mußte mich zwar nicht versuchsweise ins Messer stürzen, wie der Quasischwager vor ein paar Wochen, aber die Krankenkasse war hartleibig.
Kasseso: Unser Gutachter findet nicht, daß es ihnen schlecht geht.
Ickeso: Mir geht es aber sehr schlecht!
Kasseso: Ja, das höre ich auch, aber unser Gutachter sagt… (s.o.) Sollte es ihnen trotzdem schlecht gehen, haben sie vertragsgemäß freie Krankenhauswahl, wobei wir nicht garantieren können, daß wir die Kosten übernehmen.
Ickeso: Was heißt das jetzt?
Kasseso: Gehen sie in das nächste Akut-Krankenhaus, wenn es ihnen nicht gut geht und der behandelnde Arzt dazu rät!
Ickeso: Das ist eine psychosomatische Privatklinik bei mir um die Ecke, die hat Akutstatus.
Kasseso: Da kann ich ihnen die Kostenübernahme nicht garantieren. Da müssen wir prüfen, ob das nötig war.
Ickeso: Was soll ich denn jetzt machen?
Kasseso: Keine Ahnung.
Ich legte in etwas desolater Verfassung auf und greinte noch was von Natur und bis zum Horizont schauen können. Deshalb rief mein Doc noch eine Klinik im Brandenburger Umland an, eigentlich ein Laden, der auf Sucht und Entzug spezialisiert ist. Man ist halbinteressiert, weil ich nicht saufe. Akute Einlieferung ist möglich, aber nur unter der schriftlichen Anerkennung, ggf. 4.500 Tacken selbst tragen zu müssen für die ersten 10 Tage, bis die Kasse ja oder nein sagt.
Mittlerweile sitze ich schweißnass und zitternd in der Ecke. Wir finden eine Klinik in Berlin, die keinen gemischten Patiententrakt* hat.
Ich fahre am Nachmittag hin und sehe sie mir an. Angenehmer Oberarzt, gute Räume. Zweibettzimmer. Für einen Menschen, der es seit Wochen vermeidet, vor die Tür zu gehen und selbst das Gespräch mit der eigentlich sehr netten Putzfrau als Anstrengung empfindet, der blanke Horror. Nach dem Rüdersdorf-Erlebnis habe ich immer den Aufschlag für das Einzelzimmer bezahlt. Der hier aber extrem teuer ist, dazu die langen Dauer des Aufenthalts, das ist unmöglich.
Übrigens ist das Berliner Krankenhaus 15% teurer im Tagessatz als der Zauberberg. Das ist Wirtschaftlichkeit.
Ich ziehe noch einen Tag eine Schleife. Jammernd, kreideweiß, panisch, mit der Litanei: Ich kann nicht in Gegenwart von eines fremden Manschen schlafen! Ich kann mich nicht entspannen, wenn zwei Meter neben mit jemand ist, den ich nicht kenne und nicht kennen will und der womöglich zu mir Kontakt aufnimmt. Ich brauche ohnehin Tage, um aufzutauen und mich an Menschen auf dem Gang oder in Veranstaltungen zu gewöhnen. Ich kann nicht in Gegenwart fremder Menschen essen, von Badbenutzung ganz zu schweigen. Das ist für mich äußerster Streß.
Nach einem durchheulten Abend kapituliere ich. Ich packe meine Sachen und lasse mich in die Klinik fahren.
Ich bin den ganzen Tag steif wie ein Brett. Nichts, wo ich mich verkriechen kann. Die alte Dame in meinem Zimmer wird von mir geradeheraus abgebügelt. Nach der Begrüßung überfällt sie mich sofort mit jammernder Stimme: „Geht es Ihnen auch so schlecht?“ Ich sehe einen Dämon mit geöffnetem Rachen auf mich zurasen. Zuhören und selbst berichten müssen, nie wieder für sich sein können, eine Altfrauenlebensgeschichte anhören müssen.
Ich kontere: „Nehmen sie es bitte nicht persönlich, ich bin derzeit sehr ungesellig und werde nicht viel reden.“
Sie dreht ab und jammert nur noch leise vor sich hin. Ich hasse sie trotzdem. Sie ist starke Raucherin, riecht sehr danach und hat aus alter Rauchergewohnheit, obwohl man im Zimmer selbstverständlich nicht rauchen darf, den ganzen Tag das Fenster offen.
Ich fühle mich ohnehin nicht wohl. In den letzten Tagen wanderte der Herpes durch meinen Körper, das Zahnfleisch blutete bei der leisesten Berührung und heute morgen erwachte ich mit Schnupfen und Kopfschmerzen.
Ich rede nicht mehr ironisch-liebevoll mit mir selbst, was ich sonst im Stillen oft tue. Ich wüte nur noch laut und leise: Fuck! Kack! Mist!, wenn irgendwas nicht klappt. Ich liege auf meinem Bett und versuche, wenigstens mit geschlossenen Augen etwas für mich zu sein. (Am Tag in Klamotten auf dem Bettzeug liegen, fürchterlich!) Ich brauche etwas, das mir gehört, am liebsten eine Decke. Gott sei Dank habe ich den kleinen häßlichen Bettgefährten vom Kind und den tibetanischen Yakwollschal mitgenommen.
Man läßt mich in Ruhe bis auf ein Gespräch, bei dem mir zwei junge Ärzte und der Professor gegenübersitzen. Der Professor erfüllt sämtliche Psychiaterklischees. Weißer Bürsten-Bart, den man nur anstarren kann. Er verliert sich gedehnt in Sätzen, bis man kurz davor ist, sie zu beenden und dann kriegt er doch noch den Bogen. Die anderen Patienten haben Verpflichtungen. Weihnachtsmarktbesuch. Nordic Walking (nur über meine Leiche!). Kochgruppe (mit Dr. Ötzi-Fertigkuchen). Andere geheimnisvolle Termine werden sich mir noch enthüllen. Gedächtnisgruppe. Suchtgruppe. Im Aufenthaltsraum steht ein Riesenfernseher und eine wii. ES steht immer mal jemand davor und das nervtötende Bling-Bling-Bieep! ertönt.
*Das mag versnobt erscheinen, aber seit meiner ersten OP im Kreiskrankenhaus Rüdersdorf, als in das Zweibettzimmer immer noch über Nacht „Ambulantpatienten“ geschoben wurden, das Klo übern Gang war und das Waschbecken in der Ecke bestehe ich auf den Leistungen, die ich bezahle.
Countdown
Seit Tagen warte ich darauf, sagen zu können ok., countdown läuft. Aber weit gefehlt.
Meine Krankenkasse hat die stationäre Einweisung des Arztes abgelehnt. Begründung: Sie zahlen keine Kur- oder Rehabilitationsmaßnahme. Ein Ortwechsel ist nicht nötig. Meine Probleme ließen sich mit 30 Stunden Kurzzeittherapie erledigen.
Btw. Ich glaube, diese 30 Stunden haben wir bereits im vorab aufgebraucht. Als der Doc mich im Spätsommer zum ersten Mal sah, meinte er: Wir können nicht warten und fangen gleich mit Doppelstunden an, wann ich mein Geld bekomme, interessiert mich nicht, sie brauchen jetzt Hilfe.
Als ich das gestern nachmittag erfuhr, war ich zunächst wie paralysiert.
Ok., du bildest dir das alles nur ein und jetzt hast du es schriftlich.
Es gibt Schlimmeres, hab dich nicht so.
Durchhalten.
Du hast ein Luxusproblem.
Jetzt ist alles vorbei.
Vor mir ist das Nichts. Ich muß nur den nächsten Schritt hinein machen.
Reichen die Tabletten? Fraglich. Wahrscheinlich würde ich nur drei Tage durchschlafen.
Aber es ist genügend Paracetamol da, um ein Pferd umzubringen. An Leberversagen krepieren? Das ist wie Rattengift schlucken.
Springen geht wegen der Höhenangst nicht und ich will hier nicht raus. Ich will in geschlossenen Räumen bleiben.
Dem Freund das Bad mit spritzendem arteriellem Blut versauen? Der hat doch schon ein Problem, wenn Milchschaum an der Düse der Kaffeemaschine klebt.
Bißchen viel Wünsche für jemanden, der eigentlich so schnell wie möglich wunschlos sein will, oder?
Du hast ein Kind. Das Kind ist schon erwachsen, aber es baut auf dich. Du kannst dich nicht wegnehmen. Wenn du dich auf diese stümperhafte Art zu heilen zu heilen versuchst, reißt du in jemanden, der noch viel Leben vor sich hat, eine große Wunde. Nein. Es geht nicht.
Ich fühle mich gestraft. Zurückhaltend, diszipliniert, behalte ich alles in mir. Verberge es, bis ich irgendwann explodiere und/oder zusammenbreche. Einmal nur auf die anerzogene Haltung verzichten, auf das innere Preußentum.
Ich erzähle niemandem von der Ablehnung der Klinikeinweisung. Das Kind kann ohnehin nichts machen und macht sich schon viel zu viel Sorgen um mich. Auch wenn sie letztens von mir verlangte, daß ich ihr rechtzeitig sage, wenn bei mir was nicht stimmt, ich bringe es nicht übers Herz, sie zu beunruhigen.
Der Freund ist beim Skifahren und wenn er abends anruft, spiele ich ihm etwas vor. Ja, prima, mir gehts gut, hab einiges gearbeitet, war spazieren, schönes Wetter hier… Er hat vor sechs Wochen seinen seit Jahren geplanten Amerikaurlaub abgebrochen, weil sein Bruder krank wurde und weil es mir nicht gut ging und fühlt sich ohnehin sehr schnell für alles verantwortlich.
Dem Doc habe ich die Ablehnung am Freitag nachmittag per Mail geschickt. Ich hätte sicher zusätzlich anrufen können, aber ich wollte ihn kurz vorm Wochenende nicht belästigen.
Die drei Tage bekomme ich rum. Bücher. Fernsehen. Matratzengruft. Badewanne. Sofaecke. Das Geld reicht für den Asia-Lieferservice. Käse, Milch und Butter sind im Haus.
Was wäre, wenn ich einen solchen Todesangstanfall bekäme wie vor zwei Wochen? Ich müßte mich selbst einliefern. Die innere Stimme sagt: das geht nicht. Die Pflichten. Jemand muß am Montag die Mailboxen kontrollieren, reagieren und du hast die Leitfäden für das Kind, das dich vertreten wird, noch nicht geschrieben. Angst, daß ich selbst durch den unperfekten Misthaufen nicht mehr durchsehe, den ich in den letzten zwei Jahren aufgetürmt habe.
Andererseits: Ich habe vor 16 Jahren auch in der Nebensaison völlig unvorbereitet den Laden meiner Chefin übernommen, als sie für sechs Wochen ins Krankenhaus ging. Es geht also.
Was mache ich mit der Krankenkasse? Gleich den Anwalt anrufen, damit ein böser Brief rausgeht? Oder die theatralische Tour? Zusammenbruch, Notaufnahme, Transfer in die Privatklinik?
Alles ignorieren? Meinen seit langem gebuchten Flug in den Urlaub doch benutzen? Den Freund besuchen, dem ich schon lange abgesagt habe, mit der Begründung, es ginge mir beschissen, das wolle ich ihm nicht zumuten?
Keine Ahnung.
in statu quo res erant ante bellum
Gerade ich hab immer geglaubt, mir passierts nie. (Verhochdeutschter Konstantin Wecker, ich weiß.)
Aber es war bisher immer alles gut gegangen. Nach dem Studium hatte ich umgeschaltet, von der verträumten Kunstbegleiterin zur Kunst-Managerin, die eines nie wollte, nämlich bei Behörden und Sponsoren um Subventionen betteln.
Nach kurzer Lernzeit startete ich durch. Zwei, drei Jahre stand ich total unter Strom. Der Erfolg kickte. Ich entwickelte einen ungeheuren, von mir nicht gekannten Ehrgeiz. Das war die Zeit, in der ich mich an niemandem maß, sondern meine eigenen Maßstäbe aufstellte. Mein Credo war: ICH. WILL.
Ich wollte es denen beweisen, die an mir zweifelten. Denen, die mir Vertrauen schenken und mich förderten, wollte ich mich dankbar zeigen. Und ich wollte keiner dieser Jammerossis sein, die Neufünfland bevölkerten. Denn das hätte wiederum bedeutet, subventionsabhängig zu sein. Niemals. Weder in der Kunst noch im Leben.
Ich hielt naturgemäß für faul und träge, deshalb versuchte ich, mich in Schwung zu halten. Ich lief morgens 3.000 Meter durch den Wald, bei möglichst jedem Wetter. Im Sommer schwamm ich nach dem Aufstehen 1.000 Meter. Diese totale Wachsein, eigentlich ein permanenter Alarmzustand, versetzte mich in die Situation, es sofort zu merken und hart gegenzuhalten, wenn mich jemand bei Verhandlungen über den Tisch ziehen wollte, bzw. schnellstens einsatzbereit und aufmerksam zu sein, wenn einer meiner Klienten Unterstützung brauchte
Nach drei, vier Jahren, als alles lief, kamen die ersten Abnutzungserscheinungen. Meine Schilddrüse schien runterzufahren, denn ich war ständig müde. Außerdem hatte ich sein vergripptes Gefühl in Hals und Kopf und war oft erkältet.
Das Schilddrüsenhormon half erst einmal, ich war wieder fit. Der Erfolg des Sommers 1999 tat das seine dazu. Mir ging es blendend, ich arbeitete wie ein Vieh, kam mit 3-4 Stunden Schlaf aus, sportelte und gewann wie nebenbei noch einen Schwimmwettbewerb. Im Herbst setzte meine Ärztin die SD-Hormon-Dosierung runter und ich segelte langsam ins Schwarze. Das heißt, ich wurde zwar ruhiger und war weniger hibbelig, aber Monat für Monat fehlte es mir an Biß. Mir wurde die Ursache nicht richtig klar. War ich erfolgsverwöhnt, zu satt, zu routiniert? Ich konnte mich über keinen Erfolg mehr freuen und noch mehr fürchtete ich ein plötzliches Versagen.
Ich hatte meinen Job so organisiert, daß ich immer wichtig und so gut wie nicht ersetzbar war. Das ist gut für einen Menschen, der selbst ungern auf andere Menschen zugeht. Er zahlt allerdings einen hohen Preis, wenn zum Gejagten seiner eigenen Jobstrukturen wird.
Ich fühlte mich immer gleichgültiger und war Auseinandersetzungen immer weniger gewachsen. Über allem, das schief lief, stand sofort der Satz: Du bist schuld! Ich machte nicht einmal den Versuch, nach der systemischen Ursache von Fehlern zu forschen, sondern arbeitete weiter.
Die Liebesgeschichte, die ich um die Jahrtausendwende begann erwies sich darüber hinaus als sehr anstrengend, um nicht zu sagen destruktiv. Der Mann, der mich gefunden hatte, war genauso extrem liebevoll und fürsorglich wie wortbrutal und eifersüchtig. Ich hingegen lebte den Traum von der Errettung eines verkannten Begabten. Traum wohlgemerkt. Ich hatte geglaubt, wenn wir zusammen arbeiten (da wir denselben Beruf haben und uns schon lange kannten), wird er durch die Verantwortung für seinen Arbeitsbereich in einem kleinen Familienunternehmen ruhiger und kalkulierbarer. Je mehr er in seine Aufgabe startete, desto minderwertiger fühlte ich mich. Er hatte das, was ich nicht hatte: Kontaktfreude, Chuzpe und liebte es in der Öffentlichkeit herumzuschwirren. Ich bemerkte nicht, daß ich trotzdem noch den überwiegenden Teil der Arbeit leistete, denn er war nicht streßresistent, nur begrenzt lernfähig und extrem launisch bis zur Übergriffigkeit. Aber ein guter Scout und Erstkontakter. Es gab Zeiten, in denen ich kaum noch in der Lage war, den Mund aufzumachen oder ein Telefonat zu führen, weil mein Selbstbewußtsein und mein Arbeitselan völlig erodiert waren. Ich glaubte, ich wäre satt und faul geworden, weil ich mich über keinen Erfolg mehr freuen konnte.
2001 bekam ich eine Menge öffentliche Anerkennung für meine jahrelange beharrliche Arbeit und heulte hinter den Kulissen bei jeder Gelegenheit über die Demütigungen, die ich im Alltag einsteckte. Zwei Jahre lang löste ein Infekt den nächsten ab: monatelange Magen-Darm-Probleme, eine Angina mit zwei Rückfällen, die mich für Wochen mit Telefon und Notizblock ans Bett fesselte und Erkältungen im 14-Tages-Modus. Ich begann, bei längeren Autofahrten auf den Beifahrersitz einen Schlafsack mit mir zu führen, hielt alle zwei Stunden an und schlief eine Stunde. Mittags wankte ich aus dem Büro und warf mich aufs Sofa. Dort schlief ich, bis mich jemand wachrüttelte, weil meine Telefonliste in der verbleibenden Bürozeit kaum abzuarbeiten war. Saß ich bei Festivals im Kino, schlief ich sofort nach Verlöschen des Saallichts ein. Ich habe in dieser Zeit dutzende Filme nur auf der Tonspur erlebt.
Ich wurde dick, mein Gesicht schwoll teigig an. Sport war nur noch eingeschränkt möglich. Ich hatte mir beim Joggen das Knie vertreten und ging nicht zum Orthopäden. Beim Schwimmen wurde ich im Handumdrehen krank. Wenn ich zum Arzt ging, war nichts zu finden. Alle Werte waren angeblich ok. Die Hinweise, ich solle nicht so viel arbeiten und mich für unentbehrlich halten, ignorierte ich. Schließlich war ich unentbehrlich.
Selbst eine schwere körperliche Krankheit brachte mich davon nicht ab. Kurz nach der OP arbeitete ich schon wieder. Rekonvaleszenz ist etwas für Schwächlinge und Angestellte.
Mittlerweile wußte ich durchaus, daß ich mich Stück für Stück aus meinen selbstgeschaffenen Abhängigkeiten herausarbeiten mußte. Es dauerte lange. Erst die Trennung von Tisch und Bett, dann die Trennung der Arbeitsbereiche, denn ich war der Meinung, daß das Problem nur außerhalb von mir gelöst werden mußte.
Zeitgleich endeten meine Mutterschaftspflichten, das Kind ging mehr und mehr aus dem Haus. Ich war plötzlich frei und ungebunden. Was mich dazu animierte, mich sofort in obsessive Liebes- und Lebensgeschichten zu stürzen. Meine Energie reichte für zwei Jahre Arbeit und paralleles Privatleben auf der Überholspur. Dann hatte ich mein Pulver verschossen und mich in meinen üblichen Abhängigkeiten so eng verstrickt, daß ich mehr und mehr Anstrengung aufbringen mußte, meine Rolle der erfolgreichen, attraktiven und lebenslustigen Geschäftsfrau zur Zufriedenheit aller zu spielen.
Ich hatte meinen Jobbereich sehr gut optimiert, es hing nicht mehr so viel Arbeit daran, aber selbst die blieb nach und nach auf der Strecke. Erst, weil ich nicht mehr parallel powern konnte und mich auf mein Privatleben konzentrierte, später erlahmte mein Elan auf allen Gebieten.
Ich wurde aggressiv, ängstlich, wütend, träge – alles zugleich. Ich begann, meine Aufgaben vor mir herzuschieben. Etwas, das für mich früher undenkbar gewesen wäre. Ich lebte nur noch auf kurze Wohlfühlmomente hin. Ein gutes Essen, guten Wein, ein netter Abend, etwas Anerkennung oder Streicheleinheiten. Doch selbst das wurde immer rarer, je mehr mein beruflicher Erfolg nur noch aus vergangenen Taten und gutem Ruf bestand und ich selbst mich jeden Morgen wie eine zerfallene Gliederpuppe zusammenbaute und in Haltung brachte.
Im Grunde hatte ich nur eine neue, zugegeben sehr bunte Runde in meiner alten Wertewelt gedreht. Amüsant, aber kräftezehrend.
Wenn Erfolg einmal erlebt und Geschaffenes genossen ist, wenn Verpflichtungen in den Hintergrund treten, dann ist es an der Zeit, das System neu aufzusetzen. Bewährtes mitnehmen, Verbrauchtes wegwerfen, Neues testen. Doch ich hatte Angst.