Über den dunklen See

und erst als das Ufer weit entfernt ist, merkst du, dass das Eis immer dünner wird. Unter dem Spiegelglanz ist es schwarz und bodenlos. Du darfst nicht stehenbleiben, denn dann beginnt das Knistern und deine Füße sind schnell von Rissen umgeben.
Du darfst nicht anhalten, du mußt weiter, auch wenn du nicht weißt, was dich erwartet. Du läufst, schnell und vorsichtig zugleich. Betest, dass da kein Loch ist, in dem es hinuntergeht in die schwarze tödliche Kälte. Erst käme der trügerische Halt, dann der Bruch, dann noch der Versuch, sich irgendwo zu halten.

Es gibt keinen Ausweg, als weiterzulaufen. Außer der Hoffnung, dass es dich verschlingt und dann Ruhe ist. Es wird sicher auch irgendwann wieder warm, wenn alles ausgestanden ist.

Zur Endlagerstätte

Wieder ein Herbst. Noch ist es nicht hoher November, die Bäume tragen noch Blätter. Erst in einigen Wochen geben die kahlen Zweige wieder den Blick auf die Kriegszerstörungen frei.
Noch halte ich mich.
Ich habe mir selbst ein Wiederaufbauprogramm verordnet. Belastbarkeit testen, ohne Katastrophen hervorzurufen. 15 Stunden abhängiger Arbeit pro Woche in den Diensten eines Freundes. Arbeitsvorgänge, die mir aus meinem alten Beruf bekannt sind. Es geht gut, die alten Reflexe funktionieren. Das Telefon klingelt, ich schalte den Scheinwerfer an, charmiere und tue. Schwerwiegende Fehler und Versagen, wenn sie denn überhaupt passieren, werden mir freundlich nachgesehen. Dafür bin ich dankbar.
Am Abend komme ich nach Hause und da, wo andere den Rest des Abends vor dem Fernseher sitzen, zappe ich mich durch das Internet. Bei anderen Anforderungen werde ich böse und ungerecht. Ich hinke durch das Leben, den Blick konzentriert auf meine Füße gerichtet. Ich bin eine Invalidin. Wen ich anremple, der mag es mir nachsehen. Ich versuche doch nur, mich fortzubewegen.
Bei größeren Anforderungen, die mich so betreffen, dass ein klares „Nein!“ kaum funktioniert, weil sie mein Selbst- und Fremdbild völlig demontieren würden, packe ich die aufglühende Angst in gepanzerte Hochsicherheitscontainer, auf das sie mir nicht in einer Kettenreaktion aus der Kontrolle gerät. Es gibt Tage, da bin ich umstellt von diesen Containern, hoffe, dass sie mir nicht zerbrechen und mein Leben und meine Mitmenschen kontaminieren.
Der Mann an meiner Seite hat mir mehr als ein Jahr Ruhe geschenkt. Nun geht der Vorrat langsam zur Neige. Er will sein Leben verändern, was auch mein Leben verändern wird. Warten wir ab, wie weit meine Kraft reicht, mitzuziehen.

Durch die sibirischen Sümpfe nach Haus

Den Winter über habe ich mir mit Chemie die Seele gewärmt. In Erwartung des Frühlings reduzierte ich die Dosis. Doch der Frühling kommt nicht. Die Erde ist noch immer erstarrt.
In den letzten zwei Wochen war viel zu erledigen, Absprachen, Termine, freundschaftliche Dienstleistungen. Und nun steuert alles auf den 16 März zu. Der Tag, an dem ich in einen neuen gesellschaftlichen Status eintrete. Eine späte Ehe hat mir niemand prophezeit…
Ich bin glücklich. Doch mein Inneres lässt mich nackt und barfuß durch zähe schwarze Sümpfe kriechen.
Wenn ich dann dort stehe, den Strauß in der Linken, die Rechte in Erwartung des Ringes, bin ich die versehrte und halb verhungerte Heimkehrerin, sie bei jeder Herausforderung mit dem Schrei „Fliegeralarm“ im Keller verschwinden wird, die an seiner Seite durchs Leben hinkt. Eine Last.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht wichtige Dinge zu regeln vergessen habe. Aber es fällt mir immer noch schwer, meine Rechte zu erkennen, Fakten zu recherchieren. Ruhe und ein Dach über dem Kopf sind allemal wichtiger als ein Formular, zur richtigen Zeit ausgefüllt. Bis es dann wieder weiter geht, den langen Weg nach Hause, von dem ich nicht weiß, ob es noch steht.

November-Unruhen

Dieser November schickt mich in eine längst überwunden geglaubte Phase zurück.
In der Rückschau ist es ganz simpel und linear. Zuerst putzte ich nicht mehr wöchentlich, wie immer, dann verkamen die Küche und das Bad zum Dreckloch (also im Rahmen des zivilisierten!), Wäsche gewaschen wurde nur noch, wenn es nötig war. Einkäufe auf die Schnelle, ungeplant und teuer. Ich erledigte zwar die Korrespondenz, aber fehlerhaft, war gereizt und dünnhäutig, bzw. ging mit einem platten Blökoptimismus umher, der mir selber komisch war. Dann kamen in Folge trübe, dunkle, regnerische Novembertage und beim geringsten schwierigen Amtserlass haut es mich jetzt aus den Stiefeln. Depression. Kann man nichts machen, muss man durch.

Wiederaufbau II

Es ist jetzt fast drei Jahre her, dass die Fronten nicht mehr zu halten waren. Vielleicht ist es an der Zeit, zu schauen, was in den letzten Jahren aus den rauchenden Trümmern entstehen konnte.
Es ist ein anderes Land geworden, sparsamer und nur mit dem Notwendigsten bebaut, mit vielen freien Ebenen, die langsam zuwachsen. Es gibt zartes Grün und erste Anmutungen von Idylle, die Vögel sind auch zurückgekehrt. Doch die Hügel und Teiche sind Bombentrichter, in der Tiefe liegen noch Granaten.
Ein halbes Jahr nach der Rückkehr vom Zauberberg habe ich einen klaren Schnitt gemacht. Ich habe mit meinem Job, der mich fast 15 Jahre begleitet hatte, abgeschlossen und meine Klienten um Auflösung der Verträge gebeten. Dann stürzte ich mich in eine neue Unternehmung. Plan A und B hatte ich also umgesetzt. Für Plan C waren weder Zeit noch Kraft. Die Vorbereitungen für den Abschied vom Gefährten hatte ich bereits getroffen, denn ich hatte mich ein halbes Jahr lang damit beschäftigt, die kleine Wohnung des Kinds herzurichten. Es brauchte uns beiden nur einen kleinen Anlass, einen Schuss friendy fire und ich war weg. Nun war ich allein auf 30 Quadratmetern, dort, wo ich ganz am Anfang meines Berufslebens schon einmal gewohnt hatte. Ich bekam sehr schnell mein erstes Projekt, begann zu arbeiten und surfte in den Nächten schlaflos im Netz. Als würde ich nicht mehr existieren, wenn ich zum Schlafen die Augen schließe.
Vielleicht waren es zu schnell zu viele Veränderungen. Mein Doc gab mir Tabletten, mit denen ich die Nacht fast scheintot verbrachte und am Tag wie durch Gelatine lief. Und ich tat das, was ich schon immer gut konnte: So weitermachen, als wäre nichts.
Bis zur Nacht der Wintersonnenwende. Schlafes Bruder ist der Tod. In dieser Nacht übernahm der Kamikaze in mir die Direktive, flog noch einmal mit dröhnenden Motoren eine Schleife und setzte zum wirkungsvollen Crash an. Freeze.
Ich war noch mal davongekommen. Hysterische Handlungen sind selten wirkungsvoll. Ich schlief drei Tage. Am Weihnachtsabend wachte ich auf, zog ich mir ein Cocktailkleid an, nahm Haltung an und ging auf eine Party.
Der Doc erteilte mir Arbeitsverbot und ich tat bis in den Frühling hinein nichts, außer essen, schlafen und das Internet leerlesen. Der bremsende Zug war endlich zum Stehen gekommen.
Ich fand einen Mann und ein Mann fand mich. Eine neue Liebe begann, so schön wie anstrengend. Wir waren vorsichtig. Er war genauso wie ich durch eine schwere Zeit gegangen und hatte wenig Kraft.
Ich arbeitete wenig und am Ende des Sommers wollte ich noch einmal eine vollständige Arbeitspause machen, denn es gab immer wieder Momente, in denen ich mich ausknockte, Panikattacken bekam, taub war vor Tinnitus oder einfach in Ohnmacht fiel.
Genau in diesem Moment kam der Anruf einer Freundin, dass sie einen Job für mich hätte. Die Eitelkeit siegte, denn es war eine Herausforderung. Zwei Monate lang arbeitete ich einen Tag und ruhte mich am nächsten aus. Als die Chefin anrief und meinte, sie bräuchte diese neumodischen Internetsachen nicht so häufig wie geplant und ausreichend bezahlen könne sie mich auch nicht, war ich froh. Ich war am Ende meiner Kraft.
Ich trat wieder einige Monate kürzer und entdeckte, dass die Tätigkeit, die ich 15 Jahre ausgeübt hatte, eine gute Grundlage für einen ruhigen Beruf ist, der auf der Basis meiner Erfahrungen wenig Kraft kostet. Diesmal war ich vorsichtig. Ich konnte nicht noch einmal losstarten, um dann zu versagen.
Ich wollte nicht mehr viel. Ein Dach über dem Kopf, genug zu essen, nicht frieren, für alles andere hatte ich Freunde und den Mann. Manchmal habe ich Schuldgefühle, auf Kosten von anderen zu überleben. Kriegsopfermentalität. Als Opfer des eigenen Krieges.
An guten Tagen bin ich voller Ideen und Kraft und vieles gelingt mir. Nur einen Tag später ist das alles vorbei. Dann muss ich schlafen oder habe schon bei dem Gedanken, eine Arbeit zu beginnen, Angst. Mir wird übel und etwas drückt mich nieder.
Ich stand wie blockiert vor meinem neuen Leben. Im Frühjahr dieses Jahres gestand ich es mir ein: Ich werde wohl auch in absehbarer Zeit nicht mehr als drei Stunden am Tag arbeiten können. Ich bin Invalidin statt Veteranin.
Meine nächstes Vorhaben war es, mir meinen Status anerkennen zu lassen. Für das Ausfüllen aller Formulare brauchte ich drei Monate.
Einer der beteiligten Ärzte knausert mit der Unterstützung dieser Pläne. Da ich vor einem Jahr alle Psychopharmaka abgesetzt habe und sein Lieblingsmedikament konsequent verweigere, weil ich der Meinung bin, es verändert meine Persönlichkeit zu stark, zähle ich für ihn als Verweigerin.
Es wird sich zeigen, was passiert.

Die Stille nach der Schlacht

Wie das im Leben so läuft. Am Tag meines Weggangs vom Zauberberg hatte ich den ultimativen Text im Kopf, am Tag danach hörte ich noch ein Echo davon und heute kreischen und rattern nur noch die Mühlen des Alltags.
Ich sah auf meine Lebenslandschaft am Ende des Kriegs. Letzte Scharmützel der Unbelehrbaren. Trümmer. Gestank. Trauer. Erfahrung. Weiter Blick. Freiheit für den Neuanfang. Die Erkenntnisl, daß ich mir das alles hätte sparen können, wenn ich endlich ein Gefühl dafür entwickeln könnte, wann Schluß ist. Ich konnte noch nie Finale inszenieren, es war immer ein rechtes Gezerre, Gehänge und Gewürge, bis ich sagte: Ich mag nicht mehr.
Der Zauberberg hat mir neben einem für mich unerwarteten Gefühl von Aufgehobensein in der Gemeinschaft vor allem Innensichten beschert, die ich sonst nie bekommen hätte. Man agiert selten so weit jenseits von störenden Einflüssen.
Was ich gelernt habe?
Ich liebe Ordnung. (Ich! Haha!)
Ich kenne gern präzise meine Grenzen, lege sie aber in der Regel gern selbst fest.
Ich muß nicht viel reden, schon gar nicht auf der Beziehungsebene.
Ich schätze es, wenn die anderen verläßlich da sind.
Ich kann gut mit Männern,(Hahahaha!) die reden auch nicht viel und sind pragmatisch, außerdem genieße ich als einzige Frau in einer Männergruppe meinen Exotenstatus.
Ich kann weniger gut mit Frauen. Warum, weiß ich nicht.
Ich habe kein Problem mit Autoritäten, denn ich fürchte sie nicht.
Ich verpflichte mich zu schnell.
Ich unterscheide zu wenig zwischen meinen Angelegenheiten und denen der anderen.
Ich bin scheußlich konfliktunfähig, aber nicht harmoniesüchtig.
Ich strenge mich ungern an, kann mich aber leidenschaftlich in Themen verbeißen, wenn sie mir Spaß machen.
Ich bin eitel und liebe die Anerkennung anderer.
Ich brauche eine lange Zeit, bis ich mit anderen warm werde.
Ich bin nach wie vor eine Solistin.

Hier enden die Aufzeichnungen vom Zauberberg. Zeitweise haben wir gescherzt, daß die drei Flure, die auf den Glaskasten im Atrium zulaufen, Teile eines Raumschiffs sind. Ich faselte von Zeitschleifen am Ende der Gänge und Hibernierten, die in ihren Betten über Tage verschwanden.
Mars an Erde +++ Die neue Mission beginnt! +++ Mars Ende.

Informationsfluss

Der nächste, der fragt: „Was hatten Sie eigentlich in den letzten Wochen?“ Der sich zu dieser Frage veranlaßt sah, als ich ihm sagte, daß ich es langsam angehe und nicht parallel ein Filmfestival besuche und Full-Time-Bürozeit erledige.
Einer, dem ich gerade ehrlich, aber nicht detailliert Auskunft gegeben habe, weil ich ohnehin überlege, ihn wegzuschicken, denn meine dreijährige Arbeit für ihn ist wenig erfolgreich gewesen. Aber er ist keiner der narzisstischen Nervbolzen, sondern ein warmherziger, klarer Mensch.
Ich bin sicher, daß er sich demnächst ohne weitere Angabe von Gründen freundlich verabschieden wird.
Da ich nun nicht unbedingt in einem Projekt-Job bin, wo durchaus mal vier Wochen Rund-um-die Uhr-Arbeit normal sind, sondern permanent ansprechbar sein muß, halte ich es (mittlerweile) für legitim, mir meine Kräfte einzuteilen. Ich bin gespannt, wie meine Umwelt darauf reagiert.

Bald

Täglich einen Schnipsel vom immer kürzeren Bandmaß abschneiden.
Die letzten Dinge erledigen: Konzentrationsvermögen per Mensch-ärger-dich-nicht und Trominos schulen, dabei mächtig mit der kleinen Allianz lachen. Den Depressiven weiträumig aus dem Weg gehen, denn sie nerven mich zusehends, vor allem die, die genauso lange wie ich hier sind und alle Mittel einsetzen, um noch bleiben zu dürfen.
Die Träume verarbeiten, die ich jede Nacht habe. Mächtige Träume in Dolby Surround und Technicolor. Da ist Avatar n Scheiß dagegen.
Auf die kleine Wohnung freuen, die mir bald zur Verfügung steht. Erste Pläne dafür machen.
Organisatorisches: Amt, Anträge, Papierkrieg. Grmpf.

Trümmer

Die erste Kündigung der Zusammenarbeit ist eingetrudelt. Jemand, der extrem viel Support brauchte, mir aber nie einen Cent eingebracht hat.
Bei ihm hatte ich den Versuchsballon „ehrliche Ansage“ gestartet und ihm berichtet, daß ich mehrere Wochen wegen Burnout in Behandlung war. Das Ergebnis war erwartungsgemäß. Erst wünschte er mir gute Besserung, dann fragte er an, ob es mir wieder gut ginge, nun die Kündigung mit der Klage, er hätte mehr Betreuung und Aufmerksamkeit nötig.