Wiederaufbau

Man mußte mich nicht erst sanft darauf hinweisen, daß der Schlachtplan für die nächsten Monate ein ziemlich viele Baustellen aufmacht.
Job A abwickeln
Job B etablieren
Job C als Hobby nicht aus den Augen verlieren
Büro/Wohnung einrichten
für weitere Genesung sorgen
die Launen des Gefährten souverän an mir abperlen lassen
fünf Kilo abnehmen
Spaß am Leben haben
mit sehr wenig Geld über die Runden kommen
Dabei bin ich derzeit noch nicht einmal in der Lage, mich des Endlosgeplappers meiner Zimmergefährtin zu erwehren. In der Nähe von Menschen kann sie keine Sekunde den Mund halten und ich habe den Eindruck, daß sie allein überhaupt nichts mit sich anfangen kann.
Aber das sind Probleme anderer Leute. Wenn ich sie ignoriere und in mein Buch starre, fängt sie irgendwann auch an, sich still zu beschäftigen – bis zur nächsten Bewegung von mir.

Zermürbungstaktik

Nun ist hier endlich mal wieder ein echter Psycho aufgeschlagen. Ein riesiger, schwabbeliger Tanzbär, die Hose um die Körpermitte festgezurrt, die Fettschürze hängt unterm Gürtel und die Hosenbeine enden zehn Zentimeter überm Knöchel. Wenn er läuft, bewegen sich lediglich schlurfend die Beine, alles andere Hängt herunter, Mimik hat er keine und die Stimme ist eine gequetschter Diskant. Der einzige Satz, den er bisher freiwillig sagte war: „Morgen nachmittag kann ich nicht, da kommt meine Mutter.“
Er ist Psychotiker und hört Stimmen. Obwohl reichlich Betten frei sind, wurde er im Zimmer eines älteren Sensibelchens einquartiert, der sich seit Wochen um die Entlassung drückt, weil er Panik hat, zu Hause allein zu sein. Dort liegt er am Tag mit offenen, in der Nacht mit geschlossenen Augen auf dem Bett, schnarcht, hyperventiliert, alpträumt schreiend und weigert sich, das Fenster zu öffnen, weil die Stimmen dann lauter werden.
Die Interventionen des Sensibelchens, diesen wirklich Verrückten in ein Einzelzimmer zu verlegen, werden allesamt abgeschmettert. Man winkt offenkundig nicht nur mehr mit Zaunpfählen, sondern mit ganzen Baumstämmen: Dann geh doch nach Hause!

Höllennacht

Sie schnarcht wie ein betrunkener Bierkutscher.
Ich war entweder wach, suchte die Ohrstöpsel, drehte sie klein und verstopfte damit meine Ohren – bis sie beim nächsten Umdrehen wieder auf dem Kissen landeten – oder ich hatte Alpträume.
Die Nachtschwester hatte die Zimmertür verbarrikadiert, indem sie auf dem Flur Berge von Stühlen und Betten auftürmte. Eine altes Pärchen – er im Rollstuhl, sie mit graugelockter Perücke und nicht mehr gut zu Fuß – schlich sich trotzdem herein. Während er polternd aus dem Rollstuhl rutschte, schloß sie mir kraftlos die Hände um den Hals, wie um mich zu erwürgen, es wurde aber nur ein zittriges Streicheln daraus.
Im nächsten Traum füllte sich das Klinikzimmer mit immer mehr Betten und Menschen. Zuletzt waren es sieben. Wenn ich das Personal darauf ansprach, leugneten sie die Anwesenheit der zusätzlichen fünf Menschen oder versuchten mir zu erklären, das ich das jetzt aushalten müßte.
Ich ging auf die Suche nach einem leeren Zimmer, aber alles war überfüllt, sogar die Doppelstockbetten. In einem von ihnen lag ein schöner, nackter junger Mann, zum perfekten hysterischen Bogen geschlossen.

Nun redet sie wieder. Ihr Onkel ist Alkoholiker. Der Opa lebt nicht mehr. Sie kauft hochwertige Kindersachen im Internet. Ihr Mann braucht einen neuen Laptop und sie macht sich Gedanken, was gekauft wird, denn die Kinder gehen auch dran. Die Kinder. Ihr Lebensinhalt scheinen ihre Kinder zu sein.
Die letzte Frau, die ihre Kinder so ernst nahm, endete mit ihnen in einem brennenden Auto.

Saturnalien

Auf dieses Wochenende hatte ich mich sehr gefreut. Ich wollte lange zu Hause sein und mich dort endlich wieder einrichten. Aber irgendwie ist es doch schwieriger, als ich dachte.
Ich bin schnell zu ermüden, dünnhäutig und neige zur Reizüberflutung. Ich kann weder mentale und kommunikative Kapriolen meines Gesprächspartners souverän ausbalancieren, noch ausdauernd unterwegs sein und wenn mir der Kopf mit einem kurzen, nachhaltigen Übelkeits- und Schwindelschub per Körper signalisiert: Ende Gelände, muß ich mich schleunigst in reizarme Umgebung begeben. Das ist in jedem Fall ein guter Ausgangspunkt für ein Frührentnerdasein. – Postbeamter kann man ja heute leider nicht mehr werden.
Der erste geschäftliche Termin seit Monaten ist am Freitag zu meiner großen Freude sehr gut gelaufen. Solange mich niemand versucht, für sein Leben und seine Karriere verantwortlich zu machen, bin ich noch immer gut im Job. Das Helfersyndrom aber scheint in mir vollständig mumifiziert zu sein. Kann ich nicht mehr, will ich nicht mehr. Auf dem Ohr bin ich taub geworden.
Das Kind sucht intensiv nach einer Wohnung. Ich überlege derweil schon, ob ich es schaffe, die Wände allein glatt zu spachteln und welche Farbe ich dann streiche (Weiss, diskret mit Karamell abgetönt) und was ich vor allem mit dieser grottigen Kücheneinrichtung mache, ohne Geld auszugeben. Das schöne ist, das ich Zeit habe. Was für ein Luxus nach all den Jahren.
Leider bin ich in meinem Zimmer auf dem Zauberberg nicht mehr allein. Die Woche Ruhe war wunderbar. Nun teile ich das Zimmer mit einer ausgebrannten Zwillingsmutter meines Alters, die mir natürlich sofort in der ersten halben Stunde alles verraten mußte. Daß ihre Gynäkologin erst in der nächsten Woche einen Termin hätte… Daß sie ihren Sohn mit 14 immer noch von der Schule abholt, daß ihre Tochter mit 5 im Sterben lag und sie damals eine Lungenentzündung und einen Nervenzusammenbruch bekam und keiner ihrer Kollegen Verständnis hatte… Ohne Punkt und Komma. Ja springt mir doch gleich mit dem nackten Arsch ins Gesicht, das ist genauso distanzlos. Wie kann man nur fremden Menschen auf Anhieb alles mögliche erzählen? Im Gegenzug macht sie das Fenster zum Park mit der Jalousie dicht, weil ja jemand abends reinschauen könnte, wenn sie sich auszieht.
Ich hoffe nur, die stellen sie morgen ruhig, denn sie kann nichts als reden. Lesen und fernsehen geht wohl gerade garnicht.
Der Gefährte verzichtete heute sogar auf den Karnevalsumzug (wobei dem geborenen Rheinländer das Berliner Elend auch eher die Tränen in die Augen treibt) und fuhr mit mir nach Lehnin, wo wir gemeinsam bis zu den Knien im Schnee über wunderbar unberührte und verschneite Äcker stolperten. Was hab ich mich nach meinen Skiern gesehnt, die im Keller in Strausberg in irgendeiner Ecke klemmen.

Im Bunker

Auch wenn ich bereits Sidesteps in die Welt dort draußen mache, bleibt mein Lebensmittelpunkt noch auf dem Zauberberg.
Mein betreuender Arzt schickte mich zwecks Aktivierung ins klinikeigene Fitness-Studio. Ein schnuckeliger junger Trainer nahm sich dort meiner an und war wohl recht froh, daß ich nicht sofort mit einer „ich kann nicht“-Liste kam (Arthrose, Osteoporose und Asthma zählte eine Dame neben mir als Grund auf, warum sie sich auf keinen Fall bewegen dürfte) und ich konnte in meinem Bestreben, ihm zu gefallen wohl kaum zu seinen Vorschlägen Nein sagen. Und so machte ich mit Schnuckelchen zusammen im Liebgestütz einbeinige Kniebeugen und Armstände und tänzelte, zur Brücke gebogen, mit den Beinen auf einem Medizinball. Seit gestern krieche ich mit dem Muskelkater meines Lebens die Gänge entlang und habe das Gefühl, ich bekomme eine Grippe. Höchste Zeit, sich richtig auszuruhen, denn Schnuckelchen hat derzeit keinen Dienst.
Dann könnte ich auch endlich meine gesellschaftlichen Schulden abarbeiten. Ich habe seit gut drei Wochen auf keine SMS oder Mail mit guten Wünschen und der Nachfrage, wie es mir ginge, geantwortet, weil ich dann nur über skurrile mentale Achterbahnfahrten hätte berichten können, statt planvoller Genesung.

Ich gehe jetzt ins Bett.

Müde Krieger

Wann ist ein Krieg zu Ende? Wenn alle zu erschöpft sind, ihre Toten zu betrauern? Wenn sich die Generäle nach ihrem Sessel am Kamin sehnen? Wer hat dann eigentlich gesiegt? Der, der die Kapitulationsurkunde entgegennimmt?
Ich sehne mich nach meinem Leben und meiner Pflicht. Nach der Ebene da unten.
Doch ich weiß, daß in den Mühen der Ebene meine Pflicht eine andere sein wird als früher, wie sich auch mein Leben gewandelt hat.

Schneller Sieg?

Nachdem ich mich zum ersten Mal fit und der Welt draußen wieder gewachsen fühlte, wollte ich natürlich sofort weg vom Zauberberg und meinen Entlassungstermin am Freitag unbedingt halten.
Als mich morgens ein angst- und panikgebeutelter Mitpatient weinend und hyperventilierend bat, ihm zu helfen, denn er hätte gestern abend sein Handy in der Oper verloren und wäre nicht in der Lage, danach zu recherchieren, hatte ich das Gefühl, nicht mehr zu dieser Gemeinschaft der Versehrten zu gehören.
Die Ärzte bremsten mich sanft: Ich hätte alle Zeit der Welt, könnte selbst entscheiden, wann ich gehe, rieten mir aber zur sanften Landung und nicht zum schnellen Absprung.
Gut, gut.

Letzte Scharmützel

Wie es scheint, bin ich nun endlich durch. Die letzte Woche war eine einzige Katastrophe. Kopfausfälle en masse. Ein neuerliches Angebot, zu verlängern. Ungeduldiges Trampeln meiner Klienten aus dem Arbeitsbereich.
Ich fuhr mit den blödesten Gedanken nach Hause, um einen großen Wochenend-Alltagstest zu überstehen und war auf das Schlimmste eingestellt. Aber siehe da, es funktionierte. Ich fühlte mich nicht mehr wie falsch abgeliefert. Im Gegenteil. Mir ging es gut, ich wollte am Abend nicht zurück in die Klinik, mußte es aber aus versicherungstechnischen Gründen tun.
Mir fällt ein Stein vom Herzen.

Depesche

+++erde an mars+++was du beschreibst: genau so ging es mir von august bis zur einlieferung in die klinik. scheint, dass du sehr gut auf dich aufpassen solltest. kümmer dich nicht, ob und welche angst andere haben. das ist ein PAL =problem anderer leute. pass gut auf dich auf. erde erwartet neue mars nachricht demnächst. erde ende+++

Hanebüchene Ausfälle. Unverständliches Gerede, Multitasking-Desaster, Data-Overload. Kinder, ich will nach Hause und mich nicht um eine Inventarnummer bewerben.

Die Siege der Devoten

Meine Zimmergefährtin geht am Donnerstag. Sie wäre gern länger geblieben, das Angebot stand auch kurz im Raum, aber der Stationsarzt will sie loswerden. – Das behauptet sie zumindest.
Nachdem er ihr in einer Einzelstunde gesagt hätte, daß er ihr nicht gewachsen sei und ihr ohnehin keinen Rat geben könne, ist sie sauer. Zusätzlich ist sie eifersüchtig auf mich. Ich sei ohnehin der Liebling der Ärzte und bekäme immer sofort meine Einzelstunden, außerdem kämen hier nur devote Leute mit ihren Wünschen weiter.
Hm.
Dicke, auf Krawall gebürstete Borderlinerinnen machen jungen, schmalen Psychiatern Angst.