Saturnalien

Auf dieses Wochenende hatte ich mich sehr gefreut. Ich wollte lange zu Hause sein und mich dort endlich wieder einrichten. Aber irgendwie ist es doch schwieriger, als ich dachte.
Ich bin schnell zu ermüden, dünnhäutig und neige zur Reizüberflutung. Ich kann weder mentale und kommunikative Kapriolen meines Gesprächspartners souverän ausbalancieren, noch ausdauernd unterwegs sein und wenn mir der Kopf mit einem kurzen, nachhaltigen Übelkeits- und Schwindelschub per Körper signalisiert: Ende Gelände, muß ich mich schleunigst in reizarme Umgebung begeben. Das ist in jedem Fall ein guter Ausgangspunkt für ein Frührentnerdasein. – Postbeamter kann man ja heute leider nicht mehr werden.
Der erste geschäftliche Termin seit Monaten ist am Freitag zu meiner großen Freude sehr gut gelaufen. Solange mich niemand versucht, für sein Leben und seine Karriere verantwortlich zu machen, bin ich noch immer gut im Job. Das Helfersyndrom aber scheint in mir vollständig mumifiziert zu sein. Kann ich nicht mehr, will ich nicht mehr. Auf dem Ohr bin ich taub geworden.
Das Kind sucht intensiv nach einer Wohnung. Ich überlege derweil schon, ob ich es schaffe, die Wände allein glatt zu spachteln und welche Farbe ich dann streiche (Weiss, diskret mit Karamell abgetönt) und was ich vor allem mit dieser grottigen Kücheneinrichtung mache, ohne Geld auszugeben. Das schöne ist, das ich Zeit habe. Was für ein Luxus nach all den Jahren.
Leider bin ich in meinem Zimmer auf dem Zauberberg nicht mehr allein. Die Woche Ruhe war wunderbar. Nun teile ich das Zimmer mit einer ausgebrannten Zwillingsmutter meines Alters, die mir natürlich sofort in der ersten halben Stunde alles verraten mußte. Daß ihre Gynäkologin erst in der nächsten Woche einen Termin hätte… Daß sie ihren Sohn mit 14 immer noch von der Schule abholt, daß ihre Tochter mit 5 im Sterben lag und sie damals eine Lungenentzündung und einen Nervenzusammenbruch bekam und keiner ihrer Kollegen Verständnis hatte… Ohne Punkt und Komma. Ja springt mir doch gleich mit dem nackten Arsch ins Gesicht, das ist genauso distanzlos. Wie kann man nur fremden Menschen auf Anhieb alles mögliche erzählen? Im Gegenzug macht sie das Fenster zum Park mit der Jalousie dicht, weil ja jemand abends reinschauen könnte, wenn sie sich auszieht.
Ich hoffe nur, die stellen sie morgen ruhig, denn sie kann nichts als reden. Lesen und fernsehen geht wohl gerade garnicht.
Der Gefährte verzichtete heute sogar auf den Karnevalsumzug (wobei dem geborenen Rheinländer das Berliner Elend auch eher die Tränen in die Augen treibt) und fuhr mit mir nach Lehnin, wo wir gemeinsam bis zu den Knien im Schnee über wunderbar unberührte und verschneite Äcker stolperten. Was hab ich mich nach meinen Skiern gesehnt, die im Keller in Strausberg in irgendeiner Ecke klemmen.