Der Schnee der vergangenen Jahre

Ich sitze fast jeden Abend in einem der zwei Sessel, die diese Klinik zu bieten hat. Er steht in einem entlegenen Aufenthaltsraum, den ich mit einem Bruder im Geiste gekapert habe. Für alle anderen, die immer mal vorbeischiffen, gibt es harte Bedingungen. Oberstes Gebot ist hier: Schnauze halten! Hier ist kein Debattierclub. Hier wird nicht über Krankheit gesprochen. Hier wird gelesen, an Weihnachtsgeschenken gebastelt und im Fernsehen läuft entweder der beste Spielfilm des Abends (um diese Zeit leider in grauslich entstellten Schnittfassungen) oder Fußball. Am Abend wechseln wir manchmal nur ein, zwei Sätze. Das ist ein kleines zu Hause, das wegen des Redeverbots angenehm unter Frauenmangel leidet.
Ich bin noch immer allein in meinem Zimmer und fühle mich wohl. Die Heizung ist ausgefallen und die Temperaturen erreichen Grenzen, mit denen ich gerechnet hatte, wenn ich – statt mich einzuliefern – den Dezember auf Sardinien verbracht hätte. Nur hier gibt es leider keinen Kamin und keinen Garten mit Blick aufs stürmische Meer. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Wenn ich abends vor dem Fernseher sitze (ich bin endlich wieder mental in der Lage vollständige Filme zu sehen!), merke ich, welche Filme ich in den letzten Jahren verpaßt habe. Wunderbar verfrickelte Geschichten, in „Prestige“, visuelle und seelische Grenzgänge in „Unbreakable“, ungefesselte Phantasie in „Charlie und die Schokoladenfabrik“ oder das Eingeständnis, daß nur animierte Kinder-Schauspieler solche Abenteuer erleben können wie in „Polarexpress“.
Die Cineastin wird wieder wach, die Phantasie, in den hintersten Kerker meines Kopfes gesperrt, regt sich wieder.
Ich bin detailpusselig geworden. Meine Bilder sind nicht mehr brachiale Kreidezeichnungen mit auf Linie gebrachten Gegenständen sondern filigrane Bleistiftzeichnungen. Ich räume mein Zimmer pedantisch auf. Ich!

Unconditioal Surrender

Meine Sozies Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis haben mich mal wieder sauber angesch… Vor einer knappen Woche warf ich mich in die Brust und war dabei, mit zwei Leuten ein Krippenspiel zu schreiben. Heute gebe ich auf. Nach einem nicht so schlechten Konzeptentwurf und ein paar Szenenausschnitten kam nichts mehr. Kein Wort. Zum einen war 1/3 der Mitstreiter dagegen, das Krippenspiel nichttraditionell zu machen (Geburt des Heilands im Görlitzer Park) zu anderen war ich nicht in der Lage, auch nur einen geraden Satz zu schreiben. Zum Glück darf ich in der Anstalt versagen. Was ich hiermit tue.
Coolen Text in den Sand gesetzt.
Coole Rolle für mich in die Tonne getreten.
Eine Menge heiße Luft erzeugt.
Danke, setzen.

Lieber wende ich mich den Glamourdickschen Büchern zu, die mich vor genau einer Woche per Amazon-Päckchen erreichten. Es tut gut, Freunde zu haben.

Schneekrümel

Eine Woche ohne Notizen. Was nicht heißt, daß es eine Woche ohne Ereignisse war.
Das Therapieprogramm ist mittlerweile fast vollständig, es fehlt nur noch die Gruppentherapie. Das Malen macht mir viel Spaß, dabei habe ich mich auch zum ersten Mal kaputt gespielt. Ein Plakat für die Weihnachtsfeier war erbeten und ich habe erst eine Bleistiftskizze, dann eine Farbskizze, weil ich die Farben noch nie benutzt hatte und dann eine Ausführung gemalt. Insgesamt 2 1/2 Stunden Arbeit. Nach einer Stunde mußte ich eine Pause einlegen, weil meine Konzentration völlig hinüber war. Der Rest war ohnehin dann Koloration und viel Detailarbeit, das arbeitete sich so ab. Aber Strukturen entwerfen oder erkennen, ist noch anstrengend bis unmöglich. Nach dieser Arbeit war ich völlig fertig. Ich zitterte und mir war übel. Nur das Pflichtbewußtsein brachte mich zum spazierengehen, weil ich das Ziel angeregt hatte und niemand anders es kannte. Abends fiel ich um acht Uhr ins Bett.
Ich war ruhebedürftig, aber auch überreizt, aufgedreht und brauchte dringend Entspannung. Doch ich löste nur die finale Konfrontation mit meiner Zimmernachbarin aus.
Es war schon einige Male und nicht nur mir passiert, daß sie durch andere, die sich nicht gut fühlten, den Impuls bekam, auch zu leiden und darin noch zu toppen. So eine negative Synergie kann die Hölle sein.
Ichso: Heute geht bei mir garnichts mehr, ich gehe schlafen, ich habe mich übernommen.
Sieso: (Leidensmine) Oh ja, ich gehe auch ins Bett, mir gehts garnicht gut.
Das Telefon klingelt. Sie hebt ab. Eine Freundin ist dran.
Sieso: Danke der Nachfrage! Ganz schlecht! … Ob ich das jemals wieder schaffe, bevor ich sterbe! … Es ist alles so schrecklich, ich weine ständig und mache alle Leute damit kaputt. … Dabei schenken mir alle nur Liebe und ich kann sie nicht entgegennehmen. … laberlaberlaber jammerjammerjammer
Obwohl sie sich wirklich Mühe gibt, denn Telefonate bestanden auf ihrer Seite bisher aus wortlosem Gewimmer, spielt mein Körper verrückt. Mein Herz beginnt zu rasen und ich habe das Gefühl, ich müßte mich auf der Stelle übergeben. Ich lege mein Buch beiseite, verlasse das Zimmer (Sieso: Störe ich dich? Ichso: Och nö, mir gehts nur nicht gut.) und trinke im Aufenthaltsraum erst einmal einen Kamillentee. Ein kurzer Blick ins Zimmer zeigt: Sie jammert immer noch ins Telefon. Ich schleiche mit hängenden Schultern im Bademantel den Gang auf und ab. Das fällt in dieser Anstalt auf, denn Zivilisation ist erste Gestörtenpflicht. Eine Schwester fragt mich, was los ist. Ichso: Blabla, zu viel gemacht, unruhig, aber erschöpf. Kann ich ein Beruhigungsmittel haben? – In meinem Kopf ist nur ein Gedanke: Schieß dich weg, sonst bringst du die Alte um und das an einem Tag, wo sie sich schon echt Mühe gibt. Die Schwester empfiehlt mir, mein Schlafmittel ein paar Stunden eher zu nehmen, was ich auch tue und wieder zu Bett gehe.
Das Telefonat ist nun beendet, ich komme langsam runter, betone vor ihr aber nochmals, daß ich mich entspannen müßte – für den Fall, daß sie das Gespräch mit mir weiterführen will. Langsam döse ich weg.
Die Schwester kommt. Ich werde wieder wach von der Action am Nebenbett. Bauchschmerzen, Wärmekissen. Dann ist Ruhe, das Licht ist aus, ich schlafe wieder ein. Action, sie rast zum Klo, um sich zu übergeben und weint im Bad. Ich bin wieder wach. Die Nachtschwester steht flüsternd an ihrem Bett und überlegt, was sie machen könnte. Das ganze wiederholt sich eine Stunde später noch einmal, natürlich gerade, als ich wieder eingeschlafen bin.
Ich schleiche den Rest der Nacht über den Flur und habe Mordgedanken.
Am nächsten Morgen bin ich so weit. Ich stelle bei der Visite de Arzt vor die Entscheidung: Sie oder ich. Wenn ich noch eine Nacht mit ihr verbringen muß, verlasse ich das Krankenhaus. Zum ersten Mal weine ich.
Die Reaktion ist prompt. Ich habe innerhalb einer Viertelstunde ein Zimmer in dem das zweite Bett leer ist.
Hier sitze ich nun den dritten Tag allein und bin glücklich. Ich sehe auf den dämmrigen Park, es regnet Hunde und Katzen, ab und zu mischen sich Schneeflocken darunter. Ich habe die zweite Nacht in Folge lange und tief schlafen können. Das verrückte an der Sache ist, daß ich vorher immer geadcht habe, mein Schlaf müßte so schlecht sein, ich müßte das aushalten, das sei eine Art Prüfung, wie sozial fähig ich sei. Tja.
Mit dem Beginn der zweiten Woche sortieren sich die Brüder und Schwestern im Geiste von den anderen. Ich kann weder mit den extrem ängstlichen Schwerdepressiven etwas anfangen, die längst aufgegeben haben zu kämpfen, noch mit den aggressiven Manikern, die der Meinung sind, alle anderen hätten ein Problem, nur sie nicht. Die zwei Stinker, die überhaupt nichts mehr merken, umschiffe ich weitläufig, ihnen beim Essen zuzusehen, ist genauso grauenvoll, wie in ihrer Gegenwart Luft zu holen.
Die Leader erkennen sich gegenseitig. Wir sind vier Leute, zwei Männer, zwei Frauen, Zwei Ärzte, ein Jurist, ein Geisteswissenschaftler. Offen, tolerant, ehrlich, an Heilung interessiert und im Rahmen der Krankheit relativ aktiv. Ich hoffe, diese kleine Allianz funktioniert noch eine Weile.

Flow

Gestern der zweite Lauf durch den Park. Diesmal eine halbe Stunde lang, bei strömendem kalten Regen. Es war gut, daß ich mich überwunden hatte. Ich kann Kälte wieder ertragen, Durchfrorensein und endlose Weite.
Im Moment schlafe ich sehr viel und setze Fett an. Das Mastprogramm läuft mit 4 Mahlzeiten in 12 Stunden. Da freie Auswahl ist, esse ich viel zu viel.
Der Versuch, zu arbeiten brachte mir nur Kopfschmerzen und Schwindelgefühle. Abwehr, nichts als Abwehr. Ich bin noch nicht so weit.

Rapido

Die Sonne schlägt einen winterlichen Bogen über dem Schlosspark. Am Horizont kündigt ein Wolkenbank an, daß es heute noch ein pastellfarbenes Schauspiel geben wird.
Ich jogge, die Kälte kriecht mir in Ohren und Lunge, aber ich habe Spaß. Hinter mir tappelt meine Zimmernachbarin mit Nordic-Walking-Stöcken. Richtungswechsel werden von mir mit Armeschwenken begleitet, damit ich sie nicht verliere. Heute morgen hat sie die Klagemauer wieder hochgezogen. Diesmal mit Grund, wie es scheint. die Krankenkasse weigert sich, den zweiten ausgiebigen Psychiatrieaufenthalt in diesem Jahr zu zahlen. Die Alternative: Gerontopsychiatrie.

Urlaub vom Kommiss

Gestern vormittag habe ich dann aufgegeben. Ich hatte beim Frühstück einen Mitpatienten umgerannt, der mit der Kaffeetasse unterwegs war. Dann saß ich auf Krawall gebürstet in der Musiktherapie und pöbelte den Therapeuten, zu meinem Hörerlebnis und diesbezügliche Gefühlen befragt, an, wie er so blöde Fahrstuhlmusik spielen könne.
Das alles wurde nur durch einen morgendlichen Impuls ausgelöst. Zackzack! Fünf vor acht vorm Schwimmbad stehen, denn nur in der ersten Viertelstunde ist so etwas wie Schwimmen möglich. Vorher rechtzeitig wachwerden, Zähne putzen, kämmen, provisorisch anziehen, Kaffee trinken, ein paar Cornflakes essen, das Frühstück auf einem Teller sichern, das Ei unters Kopfkissen packen, damit es warm bleibt und los gehts. Doch dann verspätet sich der Bademeister, der das Bad um acht Uhr öffnet oder das Adipositas-Geschwader hat den Badeanzug schon drunter und popelt sich nicht noch minutenlang vor dem Spind in die Plastikpelle und mir bleiben nur zehn Bahnen allein, bevor es eng wird. Ist es das wert?
Wie ein kleiner Zinnsoldat rase ich dann auch durch den Rest des Tages. Zackzack! Essen! Telefonieren! Mittagsruhe! Separates Plätzchen suchen!
Meine Zimmernachbarin akzeptiert zwar, daß ich in Ruhe gelassen werden will, aber es geht ihr langsam besser. Was heißt, sie bricht in endlose Redeströme aus. 10 Jahre Psychiatrieerfahrung in Berlin möchten weitergegeben werden. Es nervt mich. Sie versteht keinen diskreten Hinweis, wie ins Buch schauen, nur nebenbei „Hm“ murmeln. Ich fühle mich noch immer unwohl, wenn sie im Zimmer ist, auch wenn sie nun nur liest.
Aber ich bin mit meinem Entschluß, dem kleinen Zinnsoldaten Urlaub vom Kommiss zu geben, wesentlich dünnhäutiger und empfindsamer geworden. Ich friere, bin müde und grundlos leicht traurig, möchte mich am liebsten in meine Decken einwickeln und lesen. Sie stört mich dabei, auch wenn sie nichts dafür kann.

Piano, Piano

Ich bin dabei, mich auf eine längere Zeit hier einzurichten. Die geschützte Umgebung und die fast auf Null reduzierte Verantwortung tun mir gut. Die Atmosphäre im Zimmer hat sich nochmals gedreht. Die Alte frisst mir nunmehr aus der Hand.
Wirklich eine komische Geschichte. Erst der Versuch, mich sofort zu okkupieren und zum Zuhör- und Mitleidssklaven zu machen und nachdem ich mich dem verweigerte in rückhaltlose Bewunderung auszubrechen. Das muß ich mir für draußen merken.
Die erste Stunde Tanztherapie liegt hinter mir. Ich hatte den kompletten Horror erwartet, aber das ist zunächst nichts anderes als die Aufwärmübungen aus dem Schauspielunterricht.
Ich bekomme wieder meine altbekannten Ausbrüche von Energie. Sehr verhalten, kein Vergleich mit früheren Zeiten. Nach 1-2 Stunden Wohlgefühl und Flow bin ich dann todmüde und muß schlafen. Es ist verrückt, gegen viele Leute hier, vor allem die Frauen, bin ich ein Ausbund von Frohsinn und Bestimmtheit. Die Grundhaltung hier ist Jammern und Klagen: über das Essen (wtf?), unwirksame Medikamente, das Eingeschlossensein und das eine oder andere private Ungemach. Die Jüngste – natürlich eine Anorektikerin – sperrt sich mit Händen und Füßen gegen jegliche Behandlung, eine der Ältesten, meine Zimmergefährtin, läßt sich tränenreich in ein Meer von Leiden und Todeswünschen fallen. Die Standardantwort auf die gern gestellte Frage: „Wie geht es dir heute?“ ist „Schlecht, sehr schlecht.“
Die Männer sind eher wortkarger. Da hört man nur um drei Ecken: Der und der hatte wieder einen schweren Anfall. oder Ich kann mich einfach noch nicht konzentrieren. oder einer versucht mit Macht, das Zittern seiner Hände zu verbergen und sieht extrem runtergekommen aus. In dieser Ecke fühle ich mich wesentlich besser aufgehoben. Vielleicht ist es auch mein Unvermögen, Schwäche zu zeigen und mich fallen zu lassen.