Schneekrümel

Eine Woche ohne Notizen. Was nicht heißt, daß es eine Woche ohne Ereignisse war.
Das Therapieprogramm ist mittlerweile fast vollständig, es fehlt nur noch die Gruppentherapie. Das Malen macht mir viel Spaß, dabei habe ich mich auch zum ersten Mal kaputt gespielt. Ein Plakat für die Weihnachtsfeier war erbeten und ich habe erst eine Bleistiftskizze, dann eine Farbskizze, weil ich die Farben noch nie benutzt hatte und dann eine Ausführung gemalt. Insgesamt 2 1/2 Stunden Arbeit. Nach einer Stunde mußte ich eine Pause einlegen, weil meine Konzentration völlig hinüber war. Der Rest war ohnehin dann Koloration und viel Detailarbeit, das arbeitete sich so ab. Aber Strukturen entwerfen oder erkennen, ist noch anstrengend bis unmöglich. Nach dieser Arbeit war ich völlig fertig. Ich zitterte und mir war übel. Nur das Pflichtbewußtsein brachte mich zum spazierengehen, weil ich das Ziel angeregt hatte und niemand anders es kannte. Abends fiel ich um acht Uhr ins Bett.
Ich war ruhebedürftig, aber auch überreizt, aufgedreht und brauchte dringend Entspannung. Doch ich löste nur die finale Konfrontation mit meiner Zimmernachbarin aus.
Es war schon einige Male und nicht nur mir passiert, daß sie durch andere, die sich nicht gut fühlten, den Impuls bekam, auch zu leiden und darin noch zu toppen. So eine negative Synergie kann die Hölle sein.
Ichso: Heute geht bei mir garnichts mehr, ich gehe schlafen, ich habe mich übernommen.
Sieso: (Leidensmine) Oh ja, ich gehe auch ins Bett, mir gehts garnicht gut.
Das Telefon klingelt. Sie hebt ab. Eine Freundin ist dran.
Sieso: Danke der Nachfrage! Ganz schlecht! … Ob ich das jemals wieder schaffe, bevor ich sterbe! … Es ist alles so schrecklich, ich weine ständig und mache alle Leute damit kaputt. … Dabei schenken mir alle nur Liebe und ich kann sie nicht entgegennehmen. … laberlaberlaber jammerjammerjammer
Obwohl sie sich wirklich Mühe gibt, denn Telefonate bestanden auf ihrer Seite bisher aus wortlosem Gewimmer, spielt mein Körper verrückt. Mein Herz beginnt zu rasen und ich habe das Gefühl, ich müßte mich auf der Stelle übergeben. Ich lege mein Buch beiseite, verlasse das Zimmer (Sieso: Störe ich dich? Ichso: Och nö, mir gehts nur nicht gut.) und trinke im Aufenthaltsraum erst einmal einen Kamillentee. Ein kurzer Blick ins Zimmer zeigt: Sie jammert immer noch ins Telefon. Ich schleiche mit hängenden Schultern im Bademantel den Gang auf und ab. Das fällt in dieser Anstalt auf, denn Zivilisation ist erste Gestörtenpflicht. Eine Schwester fragt mich, was los ist. Ichso: Blabla, zu viel gemacht, unruhig, aber erschöpf. Kann ich ein Beruhigungsmittel haben? – In meinem Kopf ist nur ein Gedanke: Schieß dich weg, sonst bringst du die Alte um und das an einem Tag, wo sie sich schon echt Mühe gibt. Die Schwester empfiehlt mir, mein Schlafmittel ein paar Stunden eher zu nehmen, was ich auch tue und wieder zu Bett gehe.
Das Telefonat ist nun beendet, ich komme langsam runter, betone vor ihr aber nochmals, daß ich mich entspannen müßte – für den Fall, daß sie das Gespräch mit mir weiterführen will. Langsam döse ich weg.
Die Schwester kommt. Ich werde wieder wach von der Action am Nebenbett. Bauchschmerzen, Wärmekissen. Dann ist Ruhe, das Licht ist aus, ich schlafe wieder ein. Action, sie rast zum Klo, um sich zu übergeben und weint im Bad. Ich bin wieder wach. Die Nachtschwester steht flüsternd an ihrem Bett und überlegt, was sie machen könnte. Das ganze wiederholt sich eine Stunde später noch einmal, natürlich gerade, als ich wieder eingeschlafen bin.
Ich schleiche den Rest der Nacht über den Flur und habe Mordgedanken.
Am nächsten Morgen bin ich so weit. Ich stelle bei der Visite de Arzt vor die Entscheidung: Sie oder ich. Wenn ich noch eine Nacht mit ihr verbringen muß, verlasse ich das Krankenhaus. Zum ersten Mal weine ich.
Die Reaktion ist prompt. Ich habe innerhalb einer Viertelstunde ein Zimmer in dem das zweite Bett leer ist.
Hier sitze ich nun den dritten Tag allein und bin glücklich. Ich sehe auf den dämmrigen Park, es regnet Hunde und Katzen, ab und zu mischen sich Schneeflocken darunter. Ich habe die zweite Nacht in Folge lange und tief schlafen können. Das verrückte an der Sache ist, daß ich vorher immer geadcht habe, mein Schlaf müßte so schlecht sein, ich müßte das aushalten, das sei eine Art Prüfung, wie sozial fähig ich sei. Tja.
Mit dem Beginn der zweiten Woche sortieren sich die Brüder und Schwestern im Geiste von den anderen. Ich kann weder mit den extrem ängstlichen Schwerdepressiven etwas anfangen, die längst aufgegeben haben zu kämpfen, noch mit den aggressiven Manikern, die der Meinung sind, alle anderen hätten ein Problem, nur sie nicht. Die zwei Stinker, die überhaupt nichts mehr merken, umschiffe ich weitläufig, ihnen beim Essen zuzusehen, ist genauso grauenvoll, wie in ihrer Gegenwart Luft zu holen.
Die Leader erkennen sich gegenseitig. Wir sind vier Leute, zwei Männer, zwei Frauen, Zwei Ärzte, ein Jurist, ein Geisteswissenschaftler. Offen, tolerant, ehrlich, an Heilung interessiert und im Rahmen der Krankheit relativ aktiv. Ich hoffe, diese kleine Allianz funktioniert noch eine Weile.