Die heilige Dreieinigkeit

Malochen – Ficken – Saufen, das war der Lebensinhalt der hier eingelieferten älteren Männer. Das Malochen endet entweder mit dem Erreichen des Rentenalters oder der Entlassung aus einer auf Jung, Schonungslos und Übermotiviert orientierten Arbeitsumgebung. Die beiden anderen verabschieden sich wenig später. Entweder spricht der Arzt ein Machtwort und dreht den Rotweinhahn zu oder der Preis, der für frisches und liebeswilliges weibliches Fleisch zu zahlen ist, steigt in schwindelerregende Höhe. Wenn die Lebenselexiere fort sind, ist der Mann am Ende und will sich umbringen. Das klingt hart und brutal, ist aber die Konsequenz eines Lebens, das genauso hart und brutal gelebt wurde.
O-Ton eines 75jährigen pensionierten Arztes (Typ fetter, widerlicher alter Sack), der sich in der Klinik mit Clubjackett und Schlips von den ihn – wie er meint – umgebenden Alkohol-, Sex- und Drogensüchtigen abheben will:
„Diese Emanzipation ist idiotisch. Das sind doch keine Frauen mehr. Frauen sind nicht mehr das, was sie mal waren. Das hat mit dieser Koedukation zu tun. Die Mädchen proletarisieren, wenn sie mit Jungen zur Schule gehen. Früher hat man sie auf die Sekundarschule gehen lassen und dann sind sie zur Letteschule gegangen und haben Haushalt gelernt. Die Frauen heute können alle nicht mehr kochen und die Kinder verkommen auch, wenn sie arbeiten gehen.“
Keiner dieser Sätze ist ausgedacht. Ich bin unter Mitnahme meines Abendbrots fast vom Stuhl gefallen, aber eine Diskussion wäre sinnlos gewesen. Er ist genug gestraft. Die 24jährige sehr trinkfreudige Ukrainerin, mit der er zusammenlebt, für deren Lebenshaltung und Studium er aufkommt, geht immer öfter zu einem Kommilitonen zum „Lernen“ und vernachlässigt den Haushalt. Heute bedauert er zutiefst, daß seine Drohung, sich umzubringen, von seiner Umgebung ernst genommen wurde und er schnurstracks in der Klapse landete.

Ich bin heute und gestern nach Hause gefahren, um am Schreibtisch zu sitzen und langsam mit der Arbeit zu beginnen. Gestern hörte ich mir einen halbstündigen, heute einen dreiviertelstündigen und einen zwanzigminütigen telefonischen Monolog eines Klienten an. Grundtenor: es muß was passieren, tu etwas für mich, ich brauche Geld, die Marktlage interessiert mich nicht. Solche Gespräche strengen mich noch immer (oder immer mehr) an. Aber ich habe wenigstens von den Ärzten aus der Klinik gelernt, daß ich die Leute reden lassen kann. Sie intonieren ihr Thema mit Variationen und ich bekräftige oder beruhige. Den einen oder anderen Satz nehme ich zum einhaken, um die Selbstverantwortung, die Eigeninitiative, die Selbsteinschätzung und/oder das Selbstvertrauen meines Gegenübers zu stärken und ich mache mir zwei, drei Notzen, weil ich eine Idee bekommen habe, wie ich weiter verfahre. Denn ich bin nicht schuld, daß mein Gegenüber noch nicht in Hollywood sitzt und auch dieses Jahr darauf verzichten muß, einen Porsche zu ordern.
Abends und nachts reißt es mich des öfteren. Kanonenschlagartige Selbsterkenntnisse, die nicht aufschreibbar, sondern nur lebbar sind. Packen wirs an.

Donnerschlag

Im Grunde neige ich selten zu Identifikation. Trotzdem fand ich mich dieser Tage in einer Schilderung von Karen Horney wieder. Das war nicht angenehm. Das Thema war mir nicht neu, aber so minutiös geschildert zu bekommen, was passiert, wenn sich zwei Menschen mit ihrer jeweiligen inneren Disposition aufeinander einlassen, wirkt entblößend.
Langsam beginne ich wieder mit dem Countdown. Noch knapp drei Wochen bleiben mir, um meinen Rückkehrzeitplan umzusetzen. Rausgehen und normalen Alttag zu Hause erleben, das habe ich dieses Wochenende schon hinter mich gebracht. Von den 11 Stunden habe ich drei geschlafen und am Abend bin ich zusätzlich todmüde ins Bett gefallen. Der Reiz, wieder mit meinen alten Tätigkeiten zu beginnen, mich an den Schreibtisch zu setzen und stundenlang im Netz zu surfen, war groß.
Mir fiel auf, wie stark mir eine Tagesstruktur fehlt und wie wenig diese Wohnung mit mir zu tun hat. Außer dem Schreibtisch gehört mir dort nichts. Aber das wird sich bald ändern, wenn ich die kleine Wohnung vom Kind überlassen bekomme. – Aber seitab vom Lamento: auf dem Balkon bildete sich eine halbmeterhohe Schneewehe, der Bambus war weiß, es sah wunderschön aus.

Im System

Mir fiel sehr früh auf, das mancher Patient hier zu Unrecht allein seine Krankheit kuriert. Hinter ihnen stehen Mütter, deren oft nur kurz und schlaglichtartig beobachtetes Verhalten fragen läßt: „Und warum ist er/sie nicht auch hier?“
Bipolare Mutter mit Alkoholsucht – Borderliner-Sohn mit Drogenproblem
Depressive Mutter – schizophrener Sohn
Depressive Großmutter – depressive Mutter mit Spielsucht – depressive Tochter mit Eßstörung
Zwangsgestörte Mutter – Depressiver Sohn
Es ist nicht repräsentativ, was ich sehe, aber mir scheint, daß die Mütter, vor allem durch die vor den noch kleinen Kindern ausgelebte Krankheit und durch späteres Unvermögen, loslassen zu können, mehr Einfluß auf die seelische Gesundheit ihrer Kinder haben, als es womöglich die Gene sind. Von den Vätern ist hier nie die Rede, wenn es um die Krankheit geht. In den Gesprächen tauchen auch keine Trinker, Prügler und Vergewaltiger auf. Sie sind schlichtweg nicht da, haben ständig gearbeitet, sind früh gestorben oder haben sich abgesetzt.
Systemische Therapie mag teuer sein, kann aber in vielen Fällen das Problem überhaupt erst lösen. Denn das Familiensystem pendelt gern wieder in den Status Quo zurück. Ist die Mutter mit Depressionen in der Klinik, besucht der Sohn sie täglich und es geht ihm gut. Ist die Mutter wieder gesund und kann wieder für ihren (Ende 30jährigen) Sohn sorgen, hat er den nächsten schizophrenen Schub.

Es erschreckt mich, daß viele hier nicht zum ersten Mal in einer psychiatrischen Klinik sind. Die Zahl der Widergänger ist groß. Ob dies auch außerhalb der komfortablen Privatstation so ist, kann ich nicht einschätzen, aber einige scheinen den Aufenthalt hier zu genießen. Das Essen ist hervorragend, es ist immer jemand für ein Gespräch da, Profis sind für Beschäftigung mit dem Ego bereit, für Unterhaltung und Beschäftigung ist gesorgt und der Betroffene spart sogar noch Geld. Eine der Frauen mit Einzelzimmeranspruch erzählte, daß sie über Jahre regelmäßig im Februar erkrankt wäre und sich mehrere Monate gesundpflegen ließ. Im letzten Jahr folgte dann ein achtmonatiger Aufenthalt, diesmal ist sie nur vier Wochen hier, um anschließend für zwei Monate in eine Tagesklinik zu wechseln. Auf die Frage hin, wie sie das mit ihren beruflichen Verpflichtungen vereinbaren könnte, meinte sie, sie mache im Moment ohnehin garnichts. Sie sei Künstlerin, aber derzeit ohne erfolgversprechendes Projekt.

Mich hingegen beschäftigt die Rückkehr in mein System. Die ganze Woche über sah ich mich vor einem bedrohlichen Dickicht stehen. Nun ist mit Hilfe des Arztes ein Weg gefunden. Ich werde ab Ende Januar langsam, über Wochen hinweg meine Arbeitszeit steigern.
Noch immer komme ich schnell in Rage, Angst und Hektik, wenn etwas nicht funktioniert und mein Schlafbedürfnis ist unglaublich. Unter 8 Stunden Nachtschlaf und 2 Stunden Mittagsschlaf bin ich kein Mensch. An anstrengenden Tagen kann es mehr sein.

Ins Weisse

Gestern gab es dann eine Reise in eine unwirkliche Winterwelt. Kloster Chorin. – Noch mehr Caspar David Friedrich. 30 Kilometer hinter Berlin lag Nebel über der Landschaft und bedeckte alles, Bäume, Gras, selbst Spinnweben mit Raureif. Manchmal waberte eine riesige, fahle Sonne durch die Nebel.
Wir fuhren über Feldwege, begrenzt von Schlehenhecken. Der Gefährte spielte „mein Geländewagen, mein Vierradantrieb, meine Winterreifen“ und freute sich wie ein Kind. Ich saß daneben und dachte an die Jahre, in denen ich mich allein ins Auto setzte und einfach wegfuhr, über Landstraßen, mich mit dem unförmigen Gefährt durch Hohlwege zwängte und irgendwann an Seeufern oder Steilhängen landete. Was hätte ich darum gegeben, so etwas einmal im Winter zu tun.
Das Kloster selbst, Anlaß der kleinen Reise, enttäuschte mich. Ich war zuletzt als 11jährige dort. Mittlerweile gibt es repräsentative Eingangstüren und einen Eintrittskassierer, einen peinlichen Museumsshop und eine wirre, unsortierte Auslassungen zu verschiedenen Themen an den Wänden („Das Veilchen im Mittelalter“). Die Ruinen der Kreuzgänge und der schwindelerregend hohen, schmale Kirche sind mittlerweile überdacht, weil sie als Konzertsaal dienen. Jeglicher Zauber dieses verlassenen Gottesortes, in den der Himmel von oben hereinbricht, ist fort. Schade.

Dieser Montag beunruhigt mich. Einer der Gründe, weshalb ich diese Klinik aufgesucht hatte, war mein Unvermögen, über die administrative Arbeit hinaus meinen Dienst zu leisten. Der erste Anruf mit Betreuungsbedarf kam heute um 10 Uhr 30. Ich merke ganz klar, daß der Jahreswechsel für mich den Abschied von bestimmten Aspekten meines Berufes mit sich brachte. Ich kann und will nicht mehr Mutter und Betreuerin spielen.

Zwischenzeit

Manchmal geht es nur darum, über etwas hinwegzukommen. Nicht im Sinne von Bewältigen von etwas Vergangenem, sondern von geschicktem Überwinden von etwas Gegenwärtigem, das sich vor einem auftürmt. Ich sprang in den Stromschnellen der Zeit von Stein zu Stein hinüber zum Ufer des neuen Jahres.
In den Raunächten hörte ich im Schneegestöber die Eulen von den Bäumen rufen und redete mir ein, es sei Tag; ich hätte mich nur zum Mittagsschlaf hingelegt, es wäre nur eine kleine Ruhezeit ganz für mich und nicht die gebieterische schwarze Nacht, die es verlangt, totenähnlich im Bett auszuharren, bis der Himmel zögerlich heller wird.
Zum Silvesterabend hatte ich mich perfekt maskiert. Die Augen Mitternachtsblau und Silber, die Jochbeine Zartrosé, die Lippen in stumpfem Pfirsichbeige. Schwarzes Kleid, diskreter Schmuck, höchste Schuhe. Allein die Oberarme sind trotz Schwimmen und Laufen in der Kälte etwas, nun ja…, die Medikamente eben. Man hätte mich in einem Eisblock einfrieren sollen, dann hätte sich das kleine Ich hinter der Person, die ihre Haltung wahrt, einfach aus dem Festraum geschlichen. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich in der Geborgenheit und Wärme eines vertrauten Körpers zusammenzurollen und so den Jahreswechsel am Himmel anzusehen.
Dieses Vakuum zwischen den Jahren ist zwar emotional unkalkulierbar, aber für mich äußerst wertvoll, weil es meine einzige berechtigte dienstfreie Zeit des Jahres ist. Doch die Zwischenzeit endet bald. In vier oder fünf Tagen beginnt die Residenzpflicht meiner beruflichen Persona wieder. Das mobile Büro ruft.