Im System

Mir fiel sehr früh auf, das mancher Patient hier zu Unrecht allein seine Krankheit kuriert. Hinter ihnen stehen Mütter, deren oft nur kurz und schlaglichtartig beobachtetes Verhalten fragen läßt: „Und warum ist er/sie nicht auch hier?“
Bipolare Mutter mit Alkoholsucht – Borderliner-Sohn mit Drogenproblem
Depressive Mutter – schizophrener Sohn
Depressive Großmutter – depressive Mutter mit Spielsucht – depressive Tochter mit Eßstörung
Zwangsgestörte Mutter – Depressiver Sohn
Es ist nicht repräsentativ, was ich sehe, aber mir scheint, daß die Mütter, vor allem durch die vor den noch kleinen Kindern ausgelebte Krankheit und durch späteres Unvermögen, loslassen zu können, mehr Einfluß auf die seelische Gesundheit ihrer Kinder haben, als es womöglich die Gene sind. Von den Vätern ist hier nie die Rede, wenn es um die Krankheit geht. In den Gesprächen tauchen auch keine Trinker, Prügler und Vergewaltiger auf. Sie sind schlichtweg nicht da, haben ständig gearbeitet, sind früh gestorben oder haben sich abgesetzt.
Systemische Therapie mag teuer sein, kann aber in vielen Fällen das Problem überhaupt erst lösen. Denn das Familiensystem pendelt gern wieder in den Status Quo zurück. Ist die Mutter mit Depressionen in der Klinik, besucht der Sohn sie täglich und es geht ihm gut. Ist die Mutter wieder gesund und kann wieder für ihren (Ende 30jährigen) Sohn sorgen, hat er den nächsten schizophrenen Schub.

Es erschreckt mich, daß viele hier nicht zum ersten Mal in einer psychiatrischen Klinik sind. Die Zahl der Widergänger ist groß. Ob dies auch außerhalb der komfortablen Privatstation so ist, kann ich nicht einschätzen, aber einige scheinen den Aufenthalt hier zu genießen. Das Essen ist hervorragend, es ist immer jemand für ein Gespräch da, Profis sind für Beschäftigung mit dem Ego bereit, für Unterhaltung und Beschäftigung ist gesorgt und der Betroffene spart sogar noch Geld. Eine der Frauen mit Einzelzimmeranspruch erzählte, daß sie über Jahre regelmäßig im Februar erkrankt wäre und sich mehrere Monate gesundpflegen ließ. Im letzten Jahr folgte dann ein achtmonatiger Aufenthalt, diesmal ist sie nur vier Wochen hier, um anschließend für zwei Monate in eine Tagesklinik zu wechseln. Auf die Frage hin, wie sie das mit ihren beruflichen Verpflichtungen vereinbaren könnte, meinte sie, sie mache im Moment ohnehin garnichts. Sie sei Künstlerin, aber derzeit ohne erfolgversprechendes Projekt.

Mich hingegen beschäftigt die Rückkehr in mein System. Die ganze Woche über sah ich mich vor einem bedrohlichen Dickicht stehen. Nun ist mit Hilfe des Arztes ein Weg gefunden. Ich werde ab Ende Januar langsam, über Wochen hinweg meine Arbeitszeit steigern.
Noch immer komme ich schnell in Rage, Angst und Hektik, wenn etwas nicht funktioniert und mein Schlafbedürfnis ist unglaublich. Unter 8 Stunden Nachtschlaf und 2 Stunden Mittagsschlaf bin ich kein Mensch. An anstrengenden Tagen kann es mehr sein.