Zurückgeblieben

Das wirkliche Alter mancher hier eingelieferten Patienten läßt sich nur erfragen. Mir passiert es immer wieder, daß ich auf Schätzungen gut zehn oder fünfzehn Jahre drauflegen kann. Was zunächst als Kompliment erscheint und von den Betreffenden sicher auch goutiert wird, ist für die Branche, in deren Hände wir uns hier begeben haben, nur eine Malaise: Mangel an (altersangemessener) Reife.
Der promovierte Jurist von Ende 30 mit dem Erstsemesterhabitus, der sich windet und mit Augenaufschlägen und Blicken von unten charmantes Söhnchen spielt, als er von den Ärzten aufgefordert wird, sich dem hiesigen Tagesablauf anzupassen.
Die Mathematikerin von Ende 20, die sich den Körper einer 12jährigen erhungert hat.
Der 20jährige Abiturient, der von abendlichen Spielrunden aufgekratzt ist wie ein Fünfjähriger und vor Aufregung nicht schlafen kann.
Die altersmäßig undefinierbare knochig-dürre, völlig gehemmte Anfangdreißgerin, die gerade fertig ist mit dem Psychologiestudium und noch immer von einer Sängerinnenkarriere träumt.
Die Mittdreißgerin, die noch immer das dicke Kind ist, das sich von seiner Mutter terrorisieren läßt.
Die Siebzigjährige, die noch immer ihr Kleinmädchenschnütchen zieht, kokette Trippelschrittchen macht und die großen Jungs anhimmelt.
Hier sammelt sich der Ausschuß des Jugendwahns. Diejenigen, die sich weder äußerlich noch innerlich an ihre Lebensanforderungen anpassen können. Ich bin mir nicht sicher, ob es diese ominöse „Nachreifung“ tatsächlich gibt.

Mit Schlag Freitag drei Uhr ging es mir blendend. Auf das es mir Montag wieder mies geht… Meine mentalen Einbrüche in dieser Woche haben die Ärzte mehr beunruhigt als mich. Ständig fragen mich die Schwestern nach meinem Befinden, schauen nach, ob es mir gut geht, was ich lese, ob mir etwas weh tut oder ob ich schon wieder schlafe. Eine weitere Woche Verlängerung steht zur Debatte, dann wäre ich bei 10 Wochen angekommen. – Wenn es mir tatsächlich etwas nutzt, werde ich mich dem fügen und weiterhin mein Belastungstraining zur Rückkehr steigern.
Ich bin froh darüber, daß die schriftstellerische Abteilung meines Kopfes unauffällig und zuverlässig die Arbeit wieder aufgenommen hat. Das analytische und strategische Denken ist noch etwas ängstlich, da haut mir noch immer ein Zittern, Zagen und Beben aus dem Inneren dazwischen, wenn ich die Gedanken fliegen lassen will. Die Abteilung Tagesgeschäft ist stoisch bis resigniert. Manchmal kommentiert sie: „Na geht doch!“ Manchmal mault sie etwas von: „Schon wieder die alte Scheiße!“
Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht.