Die Entfernung zwischen mir, dir und ihr

Melde gehorsamst, habe Weihnachten absolviert.
Diese dunklen Abende mit Harmoniezwang, vor denen ich mich so fürchte. Ich habe mich sehr auf und über meine Tochter gefreut. Ob der Gefährte wirklich mit von der Partie sein wollte, darüber war ich mir nicht sicher. Die Botschaft „Ich mache das ja nur für euch.“, war oft unübersehbar und eindeutig. Kurze Zeit sogar klang das alles, als würde der Abend nur unter Zwang festlich gestaltet, damit man mich aus dem Heim holen könne.
Urgs.
Die Dialoge waren klassisch passiv-aggressiv.

Ichso: Sag mal, wann wolltest du ungefähr kommen? (In der sms stand „nachmittags“ und hatte nicht um seinen Besuch gebeten.)
Erso: (stöhnt) Na gut, dann mache ich mich sofort auf den Weg. Darf ich wenigstens vorher meinen Kaffee austrinken?
Ichso: (wtf?) Du mußt nicht kommen.Ich brauche nicht dringend und sofort deine Anwesenheit. Erledige deine Dinge, wie du es geplant hast. Wann würdest du ungefähr da sein? (Ich erspare mir die Erläuterung, daß ich mit den anderen ins Museum gehen würde, wenn er erst am späten Nachmittag käme, das hätte noch mehr Mißverständnisse bedeutet.)
Erso: Na gut, dann mache ich mich in einer Viertelstunde auf den Weg und stelle mich hinten im Stau an.
Ichso: *nocomment*

Erso: Kind, pack die Shrimps bitte auf unterschiedliche Teller.
Kindso: Danke, hätte ich nie gesehen, das das zwei unterschiedliche Arten sind.
Erso: Spätestens an der Kasse hättest du gemerkt, daß es einen himmelweiten Unterschied gibt, wenn du sie denn gekauft hättest.
Ichso: *nocomment*

Kindso: Lecker, der alkoholfreie Sekt. Der hat nicht den Nachgeschmack wie Sekt, den ich eigentlich garnicht mag.
Erso: Hättest du das nicht eher sagen können? Warum kaufe ich dann immer den teuren Cremant?
Ichso: Weil es den bei dir immer gibt? (Im Keller stehen Kisten davon und ich hatte in der Vergangenheit auch die eine oder andere Flasche bezahlt.)
Erso: Nein, du bestehst immer darauf, daß es den teuren Cremant gibt, wenn die Kinder kommen, weil sie sich so was gutes sonst nicht leisten können.
Ichso: Mir geht es darum, daß sie lernen, was ordentliches zu trinken und nicht Alkopops.
Erso: Na das kann ich mir ja jetzt sparen. Es schmeckt ihr ja nicht mal.
Ichso: Ich kann mich recht gut erinnern, daß du immer wieder betonst, keinen Champagner zu mögen und trotzdem auf Champagnerempfängen mächtig zuschlägst.
Erso: Das stimmt gar nicht.
Ichso: Aha. Dann gibt es hier in Zukunft alkoholfreien Sekt? Oder stellst du zwei Flaschen hin?
Erso: Ich würde natürlich Cremant trinken.
Ichso: *deeskalationsthemenwechsel*

Das ging eine ganze Weile so und ich sah den Weihnachtsabend schon den Bach runtergehen. Das Kind und ich bewahrten mühsam die Haltung.
Ich hasse solch ein Genöle und Genörgel wie die Pest. Die Großmutter, die seit 38 Jahren sterben will, immer im Leben zu kurz kommt und darauf wartet, vom Schicksal an die Hand genommen zu werden, damit es ihr besser geht, redet auch so. Sie hat ihr Lebensglück am Grab ihres Mannes abgegeben. Deshalb mache ich, sobald sie loslegt, einen großen Bogen um sie. Die wenigen Treffen, bei denen sie bessere Laue hatte und (zwar vom Lächeln weit entfernt) Andere kommentarlos wahrnehmen konnte, sind an einer Hand abzuzählen. Man meidet sie, wenn es geht, weil sie einen runterzieht oder ein normales Gespräch nicht möglich ist. Was sie wiederum über ihre Einsamkeit jammern und die Undankbarkeit ihrer Anverwandten ätzen läßt.
Ich stand dem Gefährten gegenüber und hatte nur einen Gedanken im Kopf: „Das ist nicht deine Zukunft! Weg, so bald du die Kraft dazu hast.“
Doch dann wendete sich der Abend doch über einem gemeinsamen Essen zum Guten und wir beschenkten uns gegenseitig mehr liebevoll als reich.

Heute waren dann die Eltern auf einen Besuch da. Fünf Minuten vor ihrer Ankunft fuhren Angst und Übelkeit in mich. Ich zitterte und kämpfte mit den Tränen. Ich sah mich außerstande, auch nur einen Satz mit ihnen zu reden und hoffte, sie mit der Hilfe des Arztes wegschicken zu können. Doch dann lief alles recht gut. Ich betätigte mich nicht als Entertainer, obwohl sie passiv wie immer waren. Ich nahm ihr Geschenk mit einem Lächeln entgegen. Eine zu einem Kissen zusammenlegbare Mikrofaserdecke auf dem Homeshopping-TV mit selten krankem Zebramuster. Wir gingen in eine kleine, leere Kneipe mit gutem Essen. Ich hatte eine paar Gedächtnisausfälle, in denen ich Blödsinn oder Wortdummies redete, aber es hielt sich in Grenzen.
Dann fuhren sie, ich umarmte noch einmal mein Kind, das mir gerade so viel Kraft gibt und ich verkroch mich für drei Stunden unter die psychedelische Zebradecke, die unbestritten kuschlig und warm ist.